Schlucken oder Spucken

Du fragst „Schlucken oder Spucken“ und kicherst. Ich sage, es kommt auf das Setting an. Wir lachen beide. Wir sitzen auf meinem Bett und trinken Tee. Draußen schneit es, hier drinnen läuft die Heizung seit Stunden auf Stufe 5. Wir tragen Wollpullis, Jogginghosen, Kuschelsocken und haben uns in Decken gewickelt. Zwei Paar Augen in einem Meer aus diversen Stofflagen, die darin fast ertrinken. „Ist das Glas halb voll oder halb leer?“ witzelst du wieder. Es kommt auf den Inhalt an, sage ich, aber wenn’s Kalorien hat trinke ich es nicht. Wir lachen beide. Dann weinst du. Salzige Tränen kullern deine Wange herunter und als würdest du dich dafür schämen scherzt du darüber, dass das jetzt wahrscheinlich deinen Elektrolythaushalt durcheinanderbringt.

Wir wirken nicht wie zwei erwachsene Frauen. Wir sind zwei verirrte Augenpaare in diversen Stofflagen, die nicht wahrhaben wollen, dass sie sich schon wieder in diese Situation gebracht haben. Die einerseits nicht wissen, wie Erwachsenwerden geht und die andererseits viel zu genau wissen, wie Erwachsenwerden geht, aber alles dafür tun würden es noch ein bisschen hinauszuzögern. Zwei Augenpaare, die lieber spucken statt schlucken –  und zwar unabhängig vom Setting. Die aufgehört haben danach zu fragen, ob das Glas halb voll oder halb leer ist, weil es für sie keinen Unterschied mehr macht. Es geht nichtmehr darum auf dem Boden des Glases so etwas wie einen Sinn zu finden. Es geht darum auszuhalten, dass es scheißegal ist, weil der Inhalt so oder so nicht schmeckt.

Irgendwann wurde mir klar, dass es immer nur auf den Inhalt und nie auf die Menge ankam. Fast könnte man meinen das nimmt der Metapher jetzt wieder das Düstere.  Denn ein gelebtes Leben ist immer nur so gut wie das darin enthaltene Leben…oder?  Es sollte erlaubt sein das Konzept von „voll“ und „leer“ selbst zu definieren. Und es sollte erlaubt sein den Glasinhalt zu trinken und dann, anstatt zu schlucken, wieder auszuspucken. Allein schon, um zu sehen was rauskommt. Ob ich, wenn ich lang genug gurgle, vielleicht die richtigen Worte ausspucken kann? Ob ich, wenn ich lange und tief genug hinten in meinem Gaumen kratze, noch mehr finde, das ich loswerden und die Toilette herunterspülen kann?  Kotzen ist eine perfide Art Katharsis. Zumindest versuchen dürfen sollte man es doch.

München. 4 Jahre später. Wir sitzen auf meinem Bett und trinken Wein. Ich sage du bist wie Benjamin Button, weil du mit jedem Jahr jünger aussiehst.  Nie würde man auf die Idee kommen, dass diese weintrinkende Häufchen Nichts demnächst 30 wird. Während mein hungerndes Gesicht stets faltig, fahl, alt und ausdruckslos wirkt, siehst du aus wie eine merkwürdig erfahrene 16 Jährige Version von dir selbst.  Mittlerweile denkst du nichtmehr über Glasinhalte nach. Du trinkst nur noch. Alkohol hauptsächlich. Und manchmal ziehst du eine „Line“ erzählst du – nicht wegen dem unterdrückten Hungergefühl, setzt du nach. Aber das sei dennoch ganz cool.

Es dauert nicht lange bis das Gespräch ins Alko-Philosophische abdriftet. Du fragst, warum wir überhaupt Gesetze haben? Ich fasele irgendwas von Rousseau, Hobbes, dem Gesellschaftsvertrag und der organisatorischen Ordnung. Als die Weinflasche schließlich leer ist und wir indessen auch erörtert haben, dass das Verbot der Legalisierung von Drogen anmaßend patriarchalisch ist, sagst du: Weißt du was auch anmaßend ist? Menschen davon abzuhalten ihr Leben und ihren Tod selbstbestimmt zu gestalten. Ich bin zu betrunken, um mir dabei etwas zu denken und stimme zu. Komplett anmaßend sei das, sage ich. Mein Leben und mein Tod gehören mir allein. Ich sollte darüber verfügen können, sofern dabei keiner einen Schaden nimmt. Du nickst überschwänglich. Weißte, sagst du, ich verstehe ja, dass das für Andere vielleicht schwer vorstellbar ist, weil die eben gerne leben. Die haben Spaß daran jeden Tag irgendwelche Aufgaben zu erledigen, die freuen sich auf Urlaube und Geburtstage, die kochen gerne, die sind gespannt auf die Zukunft. Das ist völlig legitim. Aber wenn man jeden Tag das Aufstehen fürchtet, wenn man am liebsten gar nichtmehr aufstehen will…dann sollte man dazu nicht gezwungen werden. Jeder der behauptet das sei alles nur Ausdruck einer Depression und dieser Zustand ließe sich ändern, der versteht einfach nicht, dass Kosten und Nutzen in manchen Fällen einfach in keinem Verhältnis stehen. Ich nicke und schlage vor an der Tankstelle noch einen Wein zu besorgen. Wir besorgen einen pisssüßen Weißwein für 2,49€ und trinken weiter. Gegen 5 Uhr nimmst du die erste U-Bahn und fährst nach Hause.

Du hattest es versucht. Oft, ziemlich oft. Hast stundenlang gekotzt und gekotzt in der Hoffnung irgendwann würdest du deine Katharsis erreichen. Irgendwann im Mai hast du dann deine Hoffnung ausgekotzt. Daraufhin hast du dir Wein gekauft – keinen billigen von der Tankstelle, sondern einen guten von Edeka. Hast dir ein Glas eingeschenkt, es angesehen, dich gefragt ob es halb voll oder halb leer ist – und dann festgestellt dass es keinen Unterschied macht. Als meine Nachricht auf WhatsApp tagelang nur einen kleinen grauen Haken anzeigte wusste ich, dass du unser Gespräch weitergedacht hast. Und dass du, nach langem Hin- und Her, endlich dein Fazit gezogen hast. Eins möchte ich der Vollständigkeit wegen noch hinzufügen: Irgendwo entsteht immer ein Schaden.

Perspektivwechsel ist keine Optische Täuschung

Ach, hör mir auf. Im Leben gibt es nichts geschenkt, auch keine Zitronen, aus denen ich Limonade machen könnte. Und selbst wenn doch, hilft mir das nicht. Ich will keine Limonade.  Also spar dir die Weisheiten und deine Hilfe zur Selbsthilfe. Weiß du was Hilfe zur Selbsthilfe ist? Wenn ich auf dem Dach stehe, springen will und du mich nicht davon abhälst, sondern mir Flügel oder einen Fallschirm bastelst. Es geht nicht darum mich aufzufangen. Es geht nicht darum mich zu überzeugen. Es geht darum die Perspektive zu wechseln. Aber weil meine Perspektive nicht deiner Norm entspricht, ist sie schlichtweg inakzeptabel. Ich muss Limonade wollen. Alles andere ist absurd.

Was du nicht verstehst ist, dass es neben deiner Perspektive noch mindestens 5 andere gibt, auf die deine Regeln nicht anwendbar sind. Aber so ist es einfacher, schon klar. Wenn man die Welt in gut oder böse, schwarz oder weiß, arm oder reich und gesund oder krank einteilt dann hat man immerhin in jedem Fall eine 50 % Trefferquote. Was für eine Ironie, oder? Schließlich bin ich es der du vorwirfst zu kategorisch zu denken. Ich, die angeblich keine Grautöne und Nuancen sehen kann. Aber dann erklär mir, was ist normal? Worklife-Balance nine to five, Jahresurlaub auf Malle seit 15 Jahren, Doppelhaushälfte mit 2 Kindern?  

Deine Perspektive ist genauso ambitioniert wie eine S-Bahn-Station im Außenbezirk. Auf einer Seite geht’s in die Innenstadt, auf der anderen noch weiter nach draußen. Zu Stoßzeiten kommt sie im 15 Minuten-Takt, zu allen anderen im 20 Minuten Takt.  Am Wochenende fährt sie nur bis 1, dafür gibt’s einen Nachtbus. Der Aufzug ist seit 16 Wochen defekt. Das letzte Mal gestrichen wurde hier vor 7 Jahren. Jeden Tag fahren von dort dieselben Leute zur selben Zeit an denselben Ort und zur selben Zeit wieder hierher zurück, 5 Tage die Woche. Jedes Mal steigst du ganz hinten ein, damit du beim Aussteigen gleich an der Rolltreppe bist. Jedes Mal sitzt du hinten rechts auf dem Außenplatz, weil man da besser aufstehen kann. Ich mein, hey – zur Arbeit sind es immerhin nur 11 Stationen und die ersten 5 davon bist du meist allein im Abteil. Und auf dem Weg von deiner Wohnung zur Station gibt es Netto, Lidl und 2 Bäckereien. Das ist solide und bequem.

Ich habe nichts gegen Bequemlichkeit, aber gegen Ignoranz. Auch wenn es nicht in dein Weltbild passt, gibt es Menschen, die mit dem Fahrrad fahren und nicht jeden Sonntag 20:15 Tatort schauen. Dein Mikrokosmos mag vielleicht dein persönliches Epizentrum sein, aber dieses Netz hat 7 S-Bahn Linien und über 100 S-Bahn Stationen. Wenn du das nächste Mal mit dem Flugzeug nach Mallorca fliegst dann schau einfach mal nach unten und schau dir an wie verdammt klein deine Stadt eigentlich ist. Vielleicht merkst du dann wie lächerlich es ist Allgemeingültigkeit für eine Perspektive zu beanspruchen. Verdammt, du musst noch nicht mal in den Urlaub dafür fliegen. Nimm eine simple Treppe. Und dann geh einmal hoch und einmal runter. Nicht nur, dass es runter wesentlich leichter geht, dein Weg sieht auch noch völlig verschieden aus– je nachdem aus welcher Richtung du eben kommst. Vielleicht ist es an der Zeit mal in Betracht zu ziehen dass das keine optische Täuschung, sondern die Realität ist und dass die einzige Täuschung hier deine eigene Arroganz ist.

Gründen auf den Grund gehen

„Kein Grund zu bleiben ist ein guter Grund zu gehen(…?)“

Ich habe lange dafür gebraucht mich zu entscheiden ob das eigentlich eine extrem optimistische oder pessimistische Redewendung ist. Das Ergebnis ist –natürlich– nicht eindeutig. Fakt ist allerdings, dass ich Gründe und noch mehr Begründungen immer und immer wieder durchdenke, solange bis ich mir auch hier nichtmehr sicher bin, ob mein Beweggrund eingangs ein optimistischer oder pessimistischer war.

Im Dezember letztes Jahr war es für mich ganz klar: Kein Grund zu bleiben, ist ein guter, der beste, zu gehen. Jetzt, 9 Monate später, frage ich mich ob kein Grund zu bleiben vielleicht einer mehr ist um genau zu bleiben. Um nicht unverrichteter Dinge zu gehen, um nicht zu flüchten. Vielleicht muss man manchmal genau dann dableiben, aushalten und ausharren. Solange, bis es andere Gründe zu gehen gibt. Aber nicht einen Nicht-Grund zum Grund machen.

Ich wollte unbedingt weg, weit am besten. Nicht weil ich nicht hätte bleiben können. Nein, eigentlich nur, weil es nichts gab das wichtig genug gewesen wäre zu bleiben. Aber was hätte das denn auch sein sollen? 6 Jahre habe ich in einer Stadt gelebt, kannte den ÖPNV auswendig, wusste wo es was gab, Uni und Arbeitsplatz, beides hatte ich dort und auch ein kleines Netzwerk an Freunden und Bekannten. Klingt nach wenig, war aber unglaublich viel (vielleicht sogar genug?) für mich. Eine Stadt die keine bewusste Entscheidung, sondern Schicksalswahl war. Zu wenig hip, nicht urban genug, spießig und konservativ. Aber die betreute WG war dort und es sollte ja nur auf Zeit sein. Solange, bis ich wieder einen Grund hatte zu gehen. Irgendwo anders hin, irgendwo, wo es für mich einen Grund geben würde dort zu sein. Dann kam es anders, ich blieb. 6 Jahre.

Lange war es gut, dann ging es bergab. Und anstatt zu bleiben bin ich gegangen, schnell und weit weg. Ich wollte nicht mit dem ICE, sondern mit dem Flugzeug flüchten. Oft wünsche ich mir ich könnte sagen es war eine Impulsentscheidung, aber das war es absolut nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht, mich gefragt ob das was ich tue das Richtige ist (ist es das jemals?). Aber was mich letztlich die Koffer packen ließ waren nicht die Gründe für das neue Ziel, sondern das Fehlen der Gründe für den status quo.

Und dann war ich weg. In einem anderen Land, von dem ich eigentlich so gut wie nichts wusste. Es war Februar, es war kalt und ich hatte keinen Plan wohin die Straße auf der ich stand führt. Hatte keine Ahnung, was ich heute, morgen oder in meinem Leben noch vorhabe. Ich fühlte mich wie ein Besucher in meinem eigenen Leben, mein Leben war mir plötzlich so fremd wie diese Stadt Ich weiß nicht wann ich das letzte Mal so verwirrt war, von mir, von dem was ich tue, von der Situation in die ich mich gebracht hatte. Es ist ja so, dass einem die besten und gleichzeitig simpelsten Erkenntnisse immer dann kommen, nachdem man eine falsche Entscheidung getroffen hat: Es bringt nichts wegzurennen, wenn du keinen Plan hast, wovor du eigentlich wegrennst. Keinen Grund zu haben zu bleiben, ist ein ausgesprochen schlechter um zu gehen, da war ich mir im Februar plötzlich sicher.

Aber was ist schon ein guter Grund? Ist ein guter Grund nicht mindestens genauso subjektiv wie die eigene Meinung? Für mich ist ein Grund eine Rechtfertigung für etwas das ich beabsichtige zu tun. Ich muss das nicht mal zwingend machen wollen, es tun zu müssen reicht. Und um mich innerlich und äußerlich abzusichern suche ich nach Gründen. Gründe, Erklärungen, rationale Herleitungen für fast immer emotionale Handlungen. Ich kann mir Emotionen selten erklären und manchmal will ich auch gar nicht dass sie da sind. Da kommen mir Gründe gelegen. Die verlagern die Ursache für mein Handeln und Denken nämlich von der Emotionsebene auf eine vermeintlich rationale, begründbare Ebene. Ich tue etwas nicht weil irgendein Gefühl es mir diktiert, sondern weil es dafür Gründe, gute Gründe, gibt.

Oft gibt es auch Situationen in denen Gründe absolut nicht zu suchen haben. In puncto Essen zum Beispiel. Manchmal suche ich nach Gründen nicht zu essen. Gibt es einen Grund nicht zu essen? Also einen rational nachvollziehbaren? Wenn ich lange genug darüber nachdenke gibt es den, natürlich. Wenn ich am Vortag zu viel gegessen habe zum Bespiel – Balance ist wichtig. Wenn ich später noch Essen gehe – man weiß ja nie was die da alles reinmachen und Restaurantportionen sind definitiv größer als normale. Wenn ich weiß, dass ich mich damit besser fühle und es auch nur dieses eine Mal (versprochen!) sein wird. Wenn ich Geld sparen muss. Wenn ich zu müde um zu kochen bin. Und Gründe zu essen? Ja klar gibt es die. Aber manchmal überzeugen sie mich einfach nicht.

Blöd ist es, wenn das Suchen nach Gründen dazu führt, dass man ein Nichtvorhandensein von eben solchen als Direktive interpretiert. Wäre es besser gewesen zu bleiben? Wäre es besser Dinge grundsätzlich grund- und bedingungslos zu tun um dem Dilemma zu entgehen? Essen ohne Grund und Bedingung, einfach so, um nicht in Versuchung zu geraten, Gründe für ein Nicht-Essen zu suchen (und zu finden)? Wenn alles was ich tue ohne einen Grund getan werden würde, wären schlechte Gefühle aufgrund dem was ich tue leichter oder schwerer zu akzeptieren? Alles irgendwie zu hypothetisch. Ich glaube, Gründe sind wichtig, aber sollten weder als Rechtfertigung noch als Zwang missbraucht werden.

Was ich heute jedoch weiß: Kein Grund zu bleiben ist ein guter und gleichzeitig ein schlechter Grund zu gehen. Denn keinen Grund zu haben ist kein Grund dafür nicht das zu tun, von dem man ganz tief innen drin eigentlich genau weiß, dass es richtig ist. Einfach so, grundlos.

Tun oder Unterlassen

Ich fühle mich für viele Dinge schuldig. Vor ein paar Jahren sagte mir mal jemand: „Wenn du sprichst hört sich alles was du sagst nach einer Entschuldigung an, dafür dass du sprichst, dafür dass du du bist.“ Ich glaube das stimmt- manchmal immer noch. Ich fühle mich permanent schuldig, für Dinge an denen man regelmäßig gar keine Schuld haben kann. Und gerade jetzt fühle mich schuldig dafür, dass ich so unfassbar überheblich bin und mich so sehr selbst überschätze, dass ich mir einbilde alle Dinge könnten irgendetwas mit mir zu tun haben. Denn das setzt schuldig sein doch voraus, oder? Irgendetwas an mir muss falsch sein, irgendetwas muss ich falsch gemacht haben. Irgendwo hätte ich mich anders verhalten sollen, anders verhalten müssen. Überall steckt ein Ich drin. Jeder Vorgang in der Welt beinhaltet mich als Komponente.

Manchmal fühle ich mich schuldig dafür, nicht normal zu sein. Immer noch nicht. Ich habe das Gefühl man erwartet, dass ich inzwischen alles einfach hinter mir gelassen habe. Dass ich „dieses Kapitel endlich mal abgehakt“ habe, wie es mir ebenso gesagt wurde. Dass es „gut ist“, endlich mal, nach all den Jahren, mit „dieser Sache“, dieser Phase. Dass ich endlich damit aufgehört habe mich zu fragen, wieso alles was ich tue niemals gut genug sein wird. Aus Prinzip. Aufgehört damit, Dinge anders zu verstehen als sie gemeint sind. Mich nicht mehr zu freuen, wenn mir jemand sagt dass ich krank aussehe und dann nicht das Gefühl zu haben ich würde endlich mal etwas richtig machen. Mir nicht mehr wünschen ich könnte selbst Haare, Fingernägel und Haut abreißen – die 100 Gramm weniger wären es allemal wert. Nicht im gleichen Moment zu denken, dass es mir letztendlich ohnehin egal ist, ob die 100 Gramm dann Fett, Wasser, Knochen, Haut oder Scheisse sind – sie zählen trotzdem. Immer noch nicht damit aufgehört habe zu zählen. Alles – auch Dinge die rein physisch gar nicht zählbar sind. Aufgehört damit mich generell und grundsätzlich der Physik überlegen zu fühlen. Mich wie ein erhabener Asket zu fühlen, wenn ich mich letzten Endes nur zum Sklaven meiner selbst mache. Aufgehört damit, das Bedürfnis zu haben bedürfnislos zu sein. Das Wort Bedürfnis nur mit gekräuselten Lippen aussprechen können, weil es furchtbar ekelhaft und gefährlich klingt. Aufgehört damit kranke Gedanken als bewusste Entscheidung zu verstehen, gleichzeitig aber nicht dazu in der Lage zu sein, gesunde Gedanken als ebenso bewusste Entscheidung anzuerkennen. Ich habe mit vielen Dingen immer noch nicht aufgehört, ich bin nach wie vor schuldig.

Doch manchmal vergesse ich, dass ich vor 5 Jahren noch 3 Stunden dafür aufgewendet habe den Kaloriengehalt einer Briefmarke zu googlen (2 Kcal). Dass ich fest davon überzeugt war, dass Feuchtigkeitscreme fett macht und ich deswegen trockene Haut als notwendiges Übel hinnehmen muss. Dass ich nachts mehrmals aufgewacht bin, wie in Trance mein Wasserglas ausgeschüttet und wieder aufgefüllt habe, weil ich den immer wiederkehrenden Traum hatte, ich hätte statt Wasser Olivenöl hineingeschüttet. Dass ich das Olivenöl sogar schmecken konnte. Dass ich alles ( und ich meine alles ) dafür getan hätte, eine kleinere Zahl auf der Waage zu sehen. Dass es sich nicht auf die reine Theorie beschränkt hat. Dass ich in einem mehr oder weniger leeren Zugabteil öffentlich in einen dieser kleinen Klappmülleimer gekotzt habe.

Zum Glück bin ich frei und nicht im Strafvollzug – eine Entlassung wäre in weiter Ferne. Denn manchmal möchte ich mich rehabilitieren – und manchmal nicht. Manchmal will ich mich genau in dieses wohlig-warme altbekannte Loch zurückbegeben, dass das Leben irgendwie immer einfacher macht. Manchmal möchte ich mich bewusst dazu entscheiden, mich in meinen negativen Gedanken zu suhlen, solange ich will, so intensiv ich will, mit allen Konsequenzen. Und dennoch möchte ich Amnestie. Will, dass alles was ich mache, in einem Zustand passiert, in dem ich nicht schuldfähig bin. Ein Zustand, den ich selbst herbeiführe, um genau das zu tun, was ich sonst nicht tun dürfte. Ich möchte, dass ich entschuldigt bin. Ich möchte nicht in die Gelegenheit kommen Verantwortung für das zu tragen was ich tue oder möchte. Ich will mich schuldig verhalten ohne schuldig zu sein. Ich fürchte das wird schwierig. Denn selbst hierfür gibt es eine Regelung: Wer sich vorsätzlich schuldunfähig macht, mit dem Plan, eine Straftat zu begehen, der ist trotzdem schuldig.

Letztlich bleibt mir also die Wahl zwischen Rehabilitation oder Gefängnis. Ein Dazwischen gibt es nicht.

 

Sachbeschädigung

Ich sitze daheim vor einem Berg voll Büchern und starre sie im Wechsel an. Schuldrecht, Deliktsrecht, Erbrecht, Handelsrecht, Zivilprozessrecht, Baurecht, Polizeirecht, Strafrecht- so viel Recht und so wenig Platz in meinem Gehirn.

Wie ist die Rechtslage, wenn der T den O mit einem Kabel drosselt, ihn mit Benzin überschüttet, anzündet und dann von einem Hochhaus wirft, fragt Fall 12. Ich blättere direkt weiter, die Lösungsskizze beginnt mit „Strafbarkeit des T wegen Sachbeschädigung an der Jacke des O.“

Manchmal fühlt sich mein Leben genauso an wie die Lösungsskizze von Fall 12. Alles um mich herum brennt und geht kaputt und ich sitze da und mache mir Gedanken über ein Loch in meiner Jacke. Lenke mich ab, von den Dingen, die ich eigentlich tun sollte, lenke mich ab von dem, was ich nicht hören oder sehen will. Beginne mit dem, was einfach erscheint, was wenig Schaden anrichtet. Höchstens ein bisschen Sachbeschädigung.

Indem ich über die Sachbeschädigung nachdenke gewinne ich Zeit. Zeit, mich mit Dingen zu beschäftigen, die mich nicht weiterbringen. Zeit, in der ich mich mit den wirklich wichtigen Dingen beschäftigen kann. Zum Beispiel, wie viele Kalorien in Zahnpasta stecken? Ob Körperöl dick machen kann, wenn man es häufig verwendet? Ob Briefmarken eigentlich auch einen Nährwert haben? Ob autogenes Training auch beim Abnehmen hilft? Und so sitze ich da und denke über all die Sachbeschädigungen nach, die ich noch an mir selbst begehen kann und merke gar nicht dass ich schon längst dabei bin mich zu erdrosseln, mit Benzin zu überschütten und anzuzünden. Erst wenn ich auf dem Hochhaus stehe und plötzlich merke, dass da hinter mir jemand ist, der mich versucht zu schubsen, beginne ich die brennende Jacke auszuziehen und sie verdammt nochmal einfach wegzuwerfen. Ich brenne! Scheiss auf die Jacke! Und selbst dann fällt es mir schwer, aber ich habe immerhin die Gewissheit, dass ich die nächsten Wochen erstmal wieder nur damit beschäftigt sein werde, die Brandblasen verheilen zu lassen.

Ich werde in Verbände gewickelt und mit Watte abgetupft, man hat Mitleid mit mir und sieht es mir nach wenn ich vor Schmerzen weine. Und dann, wenn die Brandblasen abgeklungen sind, muss ich mich plötzlich wieder mit existentiellen Kapitaldelikten befassen. Ob ich mich schuldig gemacht habe und wenn ja, wodurch? Wie ich rehabilitiert werden kann? Ob das überhaupt noch geht? Schließlich bin ich Wiederholungstäterin. Es ist nicht das erste Mal, dass ich hier bin und eigentlich mag ich es hier sogar ein bisschen. Denn die Welt draußen ist anstrengend, gemein und unfair und keiner bringt mir mein Frühstückstablett um Punkt halb acht. Hier drin gibt es für alles Regeln und ich bin ein großer Fan von klaren Strukturen.

Draußen herrscht das Chaos. Da gibt es zwar auch Regeln, an die sich aber offenbar keiner hält. Draußen muss ich mich verteidigen und ständig aufpassen, dass mir nichts passiert. Draußen muss ich funktionieren, nachdenken, über Strafrecht, Schuldrecht und Baurecht, darüber, was ich mit meinem Leben anfangen soll, darüber wie ich es schaffe, weniger nachzudenken, darüber wie ich nichtmehr zur Wiederholungstäterin werde. Ich muss urteilen und bewerten, muss Schuld akzeptieren und damit aufhören, mich für Dinge zu verurteilen die nicht strafbar sind. Das Problem ist, dass ich mein eigenes Strafgesetzbuch entwickelt habe und das fast alles, was ich tue, mit Strafe bewährt ist. Kaum etwas das ich mache muss nicht gesühnt und geahndet werden. Faul sein zum Beispiel, ist ein richtig schlimmes Verbrechen. Oder Misserfolge – die wiegen besonders schwer. Ich fahre da für mich eine klare Zero-Tolerance-Linie.

Am Ende der Falllösung steht die Unterüberschrift E) Konkurrenzen. T hat sich neben der Sachbeschädigung auch noch des Mordes und weiterer Körperverletzungsdelikte strafbar gemacht. Im Wege der Konkurrenzen besteht die Sachbeschädigung zwar weiterhin, ist allerdings nicht mehr weiter erwähnenswert. Letztlich geht es eben doch nur um das Kapitaldelikt.

Es ist immer gut, auch die Nebenschaukriegsplätze im Auge zu haben. Allerdings sollte man den Blick für das Ganze dabei nicht verlieren. Eine Briefmarke enthält übrigens 2 Kalorien. Und die Zeit, die ich dafür aufgebracht habe um das herauszufinden, hätte ich vielleicht genauso gut mit Erbrecht füllen können.

 

 

 

 

 

14.02.2019

Noch nie kamen mir 8 Stunden so lang vor. 8 Stunden des Wartens, des Trauerns, ein Wechselbad der Gefühle zwischen Akzeptanz, Verzweiflung, Angst und Erleichterung. „Sollen wir ihn erlösen?“ fragte die Tierärztin am 14.02.2019 gegen 10 Uhr am Vormittag. Ich schaue dich an und möchte dich fragen: Sollen wir dich erlösen? Aber du kauerst schon wieder in deiner Box und zitterst. Das Thermometer zeigte Untertemperatur an, ein Zeichen dass die Organe versagen. Das habe ich erst Tage danach im Internet gelesen. Am 14.02.2019 dachte ich, alles wird wieder gut, indem ich dich in deine rote Kuscheldecke einwickele und ganz ganz lange streichle, bis dir wieder warm ist. Kein Mittelchen funktionierte mehr, auch die Infusionen tröpfelten langsam in die hinein, aber zeigten keine Wirkung. Genau wie meine Tränen durch mich, flossen die Infusionen in Strömen durch dich hindurch und es wurde nicht besser, sondern immer schlimmer. Sollen wir dich erlösen, frage ich dich leise und du kauerst immer noch. Dann blinzelst du kurz, als wolltest du sagen „es ist okay“. „Komm, wir gehen heim“, sage ich. „Der Tierarzt kommt gegen 18 Uhr“, sagt die Sprechstundenhilfe. Deine vollgepinkelte Decke in der Plastiktüte sollen wir nicht vergessen, sagt sie, und gibt sie uns noch mit. Dann fahren wir noch ein letztes Mal gemeinsam U-Bahn – ich komme mir vor wie ein Henker.

Schinken und Rindertartar möchtest du nicht – du bist schwach und ganz wackelig auf deinen krummen Beinchen und bist schon halb nicht mehr hier, sondern irgendwo anders. Die Sonne schien nach Tagen des Regens, als wüsste der Himmel schon Bescheid. Das Mittel gegen deine Übelkeit schenkte dir noch ein paar Sonnenstunden auf dem Balkon, gegen Mittag konntest du nur noch neben mir im Bett liegen und angestrengt atmen. Die Stunden vergingen wie in Zeitlupe, der Sekundenzeiger bewegte sich erst nach gefühlten Stunden langsam weiter. Ich wollte, dass es endlich vorbei ist und gleichzeitig wollte ich, dass es nie vorbei sein wird. Aber dich so zu sehen hat mir das Herz gebrochen. Das Herz, das du im Sturm erobert hast.

Ich weiß noch, wie wir dich das erste Mal gesehen haben. Krümel stand an der Tür zu deinem Zimmer. Du lagst unter einem Stuhl, über den eine Decke geworfen war, nur dein rotes Schwänzchen schaute heraus. Ein tiefes, raues Miauen erfüllte den winzigen Raum und dann zeigtest du dich. Dein struppiges, rotes Fell, deine alten Augen und dein zerfleddertes Öhrchen – du warst alles, nur kein Krümel. 15 intensiv gelebte Katerjahre blickten uns entgegen. Der Pfleger sagte, du hättest noch 12 Monate zu leben, vielleicht auch nur 6. Außerdem wärst du ein Springer, daher bräuchtest du unbedingt einen hohen Kratzbaum, vielleicht auch zwei. Und Trockenfutter – das liebtest du. Alles war falsch. Du warst fast 3 Jahre bei uns, hast deinen Kratzbaum genau 4 Mal benutzt und hattest keinen einzigen Zahn  mehr – das Trockenfutter war deine größte Herausforderung.

Wenn ich nach Hause kam, hast du mich lautstark gegrüßt. Ich weiß, die meisten können das nicht verstehen, aber wir haben richtige Gespräche geführt – und ja, du hast mich verstanden, da bin ich mir ganz sicher. Du hast miaut, ich habe miaut, du hast dein Köpfchen an mir gerieben und wir beide waren selig. Es waren kleine Gesten mit großer Wirkung. Wir 2 waren das beste Team was die Welt je gesehen hat. Im Internet habe ich Katzen gesehen, die an der Leine spazieren gehen, wie ein Hund. Das probieren wir auch, dachte ich mir und besorgte dir dein blaues Geschirr. Du hast es gehasst und versucht es abzuschütteln. Wir konnten dich nicht von dem Park vor der Haustüre überzeugen. Irgendwann dann haben wir es nochmal probiert. Und du bist einfach nur noch gelaufen. Stundenlang. Wir sind kilometerweit umhergestromert, nachts um halb 2, ohne Jacke. Du warst wie ein junges Kätzchen, agil, neugierig und unfassbar ausdauernd. Von deinem kaputten Herzen keine Spur.

Und dann lagst du da, mager, kalt und müde mit großen Augen und schwächer werdendem Puls. Selbst das Trinken war die zu anstrengend. Wir beide lagen da uns haben uns einfach nur angeschaut, ausnahmsweise brauchten wir keine Worte. Es gab nichts mehr zu sagen, nichts was etwas an der Situation geändert hätte. Es war soweit, ich wusste es und du wusstest es auch.

18 Uhr und kein Tierarzt. 18:15 immer noch nicht. Gegen 19 Uhr ein schrilles Läuten. Du hast nicht einmal gezuckt. Binnen Sekunden wurde dein Köpfchen ganz schwer, es sank in meine Hand und dann warst du schon weg. Es blieb ein  kleiner Spalt in deinem Pfötchen, durch den deine Seele hindurchgleiten konnte, damit du, wenn es jetzt wieder Frühling wird, noch immer mit uns die Sonne genießen kannst.

Für einen Moment stand die Zeit still. Dann ging sie plötzlich weiter, brutal, erbarmungslos und ohne Vorwarnung. Dein Herz schlug nicht mehr uns meins war so schwer wie eine Felswand. Ich weiß noch, wie ich mich erst einige Wochen zuvor darüber beschwert hatte, dass unsere Wohnung so vollgestellt wirkt und dass wir dringend Platz schaffen müssen. Doch plötzlich bin ich erstaunt darüber, wie viel Platz in dieser Wohnung steckt.  Weit und ausladend wie das Meer und ich ersticke im Unmaß. Als ich an diesem Morgen aufgewacht bin fühlten sich die weißen Bettlaken wie eine schwere, kalte, riesige Schneedecke an, die mich herunterdrückt. So viel Luft, so wenig Atem.  Ich konnte kaum noch das Raumende sehen. Das Schlafzimmer war wie ein dunkler Tunnel, an dessen Ende kein Licht oder überhaupt irgendwas ist. Nur ich und diese lächerlich große Weite.

Deine vollgepinkelte Decke in der Tüte lag noch immer neben Couch – ich konnte es nicht übers Herz bringen sie zu waschen, war es doch das letzte, was noch von dir übrig war. Ich will nicht, dass es vorbei ist aber ich kann nichts daran ändern, dass es vorbei ist. Ich bin machtlos und hilflos und alleine und ich will die Zeit zurückdrehen können. Vielleicht ist es tröstlich, dass – könnte ich die Zeit zurückdrehen-  ich unseren letzten Tag exakt genauso wieder verbringen würde. Ich würde dich fragen: Sollen wir dich erlösen? Und du würdest blinzeln und mir sagen es ist okay. Du würdest blinzeln und mir sagen, dass du ein langes, erfülltes Katzenleben geführt hast und dass du müde bist. Dass du die Leine anfangs bescheuert fandst, dich aber irgendwann wie der King der Nachbarschaft gefühlt hast. Dass deine Augen ganz schwer werden und dass dir kalt ist. Dass du gerne bei uns im Bett geschlafen hast und uns gerne den Platz weggenommen hast. Dass du so lange miaut hast, bis du Rindertartar und Hühnchenbrust anstatt Katzenfutter bekommen hast. Dass du nicht weit weg gehen wirst, nur ein bisschen höher. Dass du die Katze gegenüber gerne angefaucht hast und dass du trotz deiner Zahnlosigkeit immer noch ziemlich gefährlich warst. Dass es okay ist, dass alles okay ist. Und dann würde ich blinzeln und sagen: Gute Nacht Kurt. Du warst mein Freund, mein Partner, mein Seelenkater. Danke für die schöne Zeit mit dir. Danke, für deine Schnurrkonzerte. Danke, dass du mich so akzeptiert hast wie ich bin. Danke dass du immer da warst. Danke, dass du mein Freund warst.

 

 

Kliniksehnsucht

Eine Klinik ist kein schöner Ort. Krankenhäuser sind keine „Genesungsoase“, sondern Massenbetrieb in steril weiß, mit Pflegenotstand und Akkordarbeit. Niemand ist gerne im Krankenhaus, niemand tauscht gerne die eigenen sicheren vier Wände, gegen ein 100×200 cm elektrisch verstellbares Kunststoffbett ein. Nein, eigentlich auch ich nicht. Aber manchmal habe ich so etwas wie Kliniksehnsucht. Sehnsucht nach dem scharfen Geruch von Desinfektionsmittel, nach den großen Eingangshallen, den weißen, sterilen Wänden und den langen, schmalen Gängen. Sehnsucht nach den Spaziergängen auf der Kinderstation, mit den bunten Bildern und dem beruhigenden Aquarium. Nach den Bänken im Außenbereich, auf denen Patienten mitsamt Tropf und Schläuchen sitzen und die Sonne genießen.

Es ist mir regelrecht peinlich. Wie kann man sich an einen Ort zurückwünschen, an dem auf einen positiven Moment am Tag 10 traurige Ereignisse kommen, an dem Sterben alltäglich ist, an dem auf eine Pflegefachkraft rund 12 Patienten kommen. Ein Ort, an den Menschen gehen, weil sie gesund werden wollen, so schnell wie möglich. Ein Ort, der nicht dazu gedacht ist, schön zu sein. Ich schäme mich dafür, dass ich mich von Zeit zu Zeit, mal mehr mal weniger – vor allem mehr in letzter Zeit – an diesen Ort zurückwünsche.

Neben Krankheit und Leid bedeutet Klinik für mich auch Struktur und Beständigkeit. Alles hat seinen geregelten Ablauf, alles hat sein System. Jeden dritten Montag gibt es Milchreis, jeden dritten Donnerstag Apfelstrudel. Ich bin ein großer Fan von Süßspeisen. Jeden Dienstag und Donnerstag ist Visite. Jeden Tag um 7 kommt die Schwester zum Blutdruckmessen. Während außerhalb des Krankenhauses die Welt im Chaos versinkt, so kommt hier drin mein Tablett mit dem Frühstück jeden Tag ganz sicher um Punkt halb acht.

Klinik bedeutet Geborgenheit und Sicherheit, Bedingungslosigkeit, Daseinsberechtigung ohne Rechtfertigung. Klinik ist, wenn das Auskratzen des Joghurtbechers dein größter Tageserfolg ist und du dafür eine Stunde länger raus darfst. Klinik ist gelobt werden, für die kleinen Selbstverständlichkeiten des Alltags. Klinik ist, wenn jeder Verständnis dafür zeigt, dass der Parmesan auf den Nudeln mental einfach nicht drin ist, aber der Schokoriegel mit Nuss- und Karamellfüllung als Abendsnack ohne große Schwierigkeiten freiwillig gegessen werden kann. Klinik ist, wo jeder versteht, was Kalorien sind, die sich lohnen und was Kalorien sind die „unnötig“ sind. Klinik ist, wenn neben dem Esstisch eine Stoppuhr mitläuft und wenn nach 25 Minuten latente Hektik ausbricht. Klinik ist, wenn man sich gegenseitig Teebeutelchen schenkt und irgendwann eine beachtliche Auswahl an jederlei denkbarer Teesorte hat. Klinik ist, wenn das Ankreuzen des Speiseplans ein gesellschaftliches Ereignis ist und die Alteingesessenen den Neuen die Tücken der vermeintlich harmlosen Polenta aufzeigen. Klinik ist, wenn andere sich für dich freuen, sich wirklich für dich freuen und es auch wirklich so meinen. Wenn du Menschen, die du gerade mal 2 Wochen kennst, deine ganze Lebensgeschichte erzählen kannst, ohne dass es sich seltsam anfühlt. Wenn du ungeschminkt, im Schlafanzug, mit fettigen Haaren Monopoly spielen kannst und es dir einfach egal ist. Klinik ist die 2 Stunden Ausgang, die man sich hart erarbeitet hat, wie ein Strafgefangener regelrecht zu zelebrieren. Klinik ist, wenn deine Station einen Spitznamen wie „Die Mädels von W3“ oder „Die Station der Besten“ hat und wenn es ein bisschen peinlich, aber auch ziemlich lustig ist. Wenn du dich noch nie zu irgendetwas so zugehörig gefühlt hast, wie zu den Mädels von W3.

Klinik ist manchmal so wie eine kitschige Mädcheninternat-TV-Serie, mit strengen Schwestern anstatt strengen Lehrern und der etwas fremd anmutenden Welt „da draußen“. Klinik ist, wenn jeder sein Heimatumfeld mit „da draußen“ umschreibt. Wenn es sich wirklich so anfühlt, als wäre man drinnen, fest eingeschlossen und sicher, wie eine Raupe im Kokon. Wenn „da draußen“ bedrohlich und chaotisch wie ein Damoklesschwert vor der Eingangstür der Klinik wartet. Wenn dir bewusst wird, dass du irgendwann wieder da raus musst. Wenn du im inneren Konflikt mit dir selbst bist, gesund werden zu wollen, aber noch ein bisschen hier bleiben zu dürfen. Wenn du ernsthaft innerlich mit dir debattierst, ob wieder Abnehmen eine echte Alternative wäre. Wenn du dir immer die Gewissheit offen halten musst, wieder hierher zurückzukommen zu können. Wenn du von Zeit zu Zeit „Testtage“ einlegst, nur um dich zu vergewissern, dass du es noch kannst, dass du es noch könntest. Wenn du dir manchmal ausrechnest, wie lange du hungern müsstest, um wieder in die Klinik zu dürfen. Wenn dieser Zeitpunkt erst dann gekommen ist wenn du „krank genug“ bist und wenn du weißt, dass du dich eigentlich niemals „krank genug“ fühlen wirst. Wenn du Angst davor hast, dich nie wieder so sicher, wie in der Klinik zu fühlen. Wenn du dich fragst, ob es außerhalb der Klinik jemals genauso schön werden kann?

Nein, eigentlich sind Krankenhäuser per se kein schöner Ort. Aber letztlich ist doch alles Definitionssache. Jedenfalls ist es so, dass auch an einem hässlichen Ort schöne Dinge, an einem traurigen Ort, glückliche Dinge, passieren können. Und im Grunde genommen ist das Krankenhaus ja auch nur das Setting. Ich weiß nicht, ob es falsch ist, Schwierigkeiten damit zu haben, zu akzeptieren, dass bestimmte Situationen und Umstände so nicht wieder zurückzuholen sind. Und ich weiß, dass das ein langer Satz, mit noch mehr Kommata ist und dass vielleicht auch inhaltlich nur schwer nachvollziehbar ist, wieso um alles in der Welt, man Sehnsucht nach Klinik haben kann. Manchmal verstehe ich es selbst nicht, manchmal dafür umso mehr.

Eisbären sind Einzelgänger

Ausflug in den Zoo, Halt am Eisbärenbecken. Ein Eisbär klammert sich mit seinen großen Tatzen an ein Stück Baumstamm und wippt dabei im Wasser hin und her. Manchmal frage ich mich, ob wir tatsächlich so anders als die Tiere sind. Ob unser vermeintlicher Intellekt uns als weiter entwickelt einstuft und wenn ja, warum wir uns dann trotzdem gegenseitig wie Tiere zerfleischen, obwohl wir unsere Nahrung auch im Supermarkt kaufen können.

Der Eisbär schwimmt eine kleine Runde, starrt kurz auf die Scheibe und schwimmt dann zurück zum Baumstamm. Ich frage mich, ob er die Menschen hinter der Scheibe als Zuschauer wahrnimmt und ob er sich mitunter beobachtet fühlt. Der Eisbär schwimmt erneut eine kleine Runde – dieses Mal in die andere Richtung – und kehrt dann wieder zurück zum Baumstamm. Sein Kopf geht wieder gen Scheibe, er gähnt und wippt dann weiter hin und her. Langsam und gleichmäßig, fast schon automatisch.

Das Konzept Zoo kommt aus dem alten Ägypten. Menschen die sich Tiere aus Sensationslust, Voyeurismus und echtem Interesse als Schauobjekte gehalten haben um sich über deren Verhalten und Aussehen auszutauschen. Im 19. Jahrhundert wurden dann nicht mehr nur Tiere, sondern auch „exotische“ Menschen mitausgestellt. Menschen die anders aussahen, sich anders verhielten und andere Traditionen pflegten. Das Fremde und Unbekannte als Inszenierung, die normalen Menschen draußen behütet und sicher durch Gitterstäbe und Käfige.

Das Eisbärenbaby kommt ins Becken geschwommen und die Eisbärenmama baut sich schützend um es herum auf. Die Menschen freuen sich, schießen Fotos, zeigen mit dem Finger auf das Baby, machen Kindergeräusche und tauschen Weisheiten über Eisbären aus. „Eisbären sind ja eigentlich Einzelgänger“ fachsimpelt ein alter Herr, vermutlich der Opa des Kindes daneben. Das Kind nickt und tatscht mit der flachen Hand gegen die Scheibe. Der Eisbär gähnt, schwimmt eine Runde, das Baby schwimmt vornedrein. Beide kehren zurück zum Baumstamm. „Ich will zu den Elefanten“ sagt das Kind zu seinem Opa. Die beiden suchen auf dem Plan nach dem Elefantengehege und brechen auf. „Elefanten leben in Herden“ murmelt der Opa noch beim Gehen, der Eisbär gähnt und schwimmt eine Runde.

Wieder daheim stöbere ich ein bisschen im Internet und überfliege Berichte und Artikel über Eisbären. Ein Artikel berichtet von einem Bären in Gefangenschaft, der sich zu Tode gehungert hat, um endlich frei zu sein – absichtlich. Sich zu Tode hungern um frei zu sein – stammt dieses Konzept von uns oder von den Tieren? Hungern wir auch um frei zu sein, nur um uns damit selbst in Gefangenschaft zu nehmen? Um uns unser eigenes Gefängnis zu bauen, uns unsere eigenen Gitterstäbe zu konstruieren? Denn wenn man schon im Käfig leben muss, dann doch lieber im eigenen. In einem, in dem die Gitterstäbe aus brüchigen Knochen, die Wände aus transparenter Haut und der Boden aus feinen Haaren bestehen. Ein Käfig, der manchmal so weit wie ein Ozean ist und manchmal so eng wie ein Korsett, sodass es uns fast die Luft abschnürt. Ein Korsett, dass so eng ist, dass es sich anfühlt als müsste man wählen zwischen essen und atmen, weil nur für eine Röhre – Luft- oder Speiseröhre-  Platz ist. Ein Ozean der so weit ist, dass er dich verschluckt – im Ganzen, ohne Kauen.

Handeln Tiere aus Instinkt oder aus freiem Willen? Und was von beidem trifft auf uns zu? In einem anderen Artikel steht, dass Kuckucke weinen um überschüssiges Salz loszuwerden. Weinen um den Elektrolythaushalt stabil zu halten, weinen um zu überleben. Wenn wir weinen, sorgen wir damit also instinktiv für Stabilität und Gleichgewicht oder haben wir die Wahl? Können wir uns dazu entscheiden nicht zu weinen, gar nicht mehr zu weinen? Nicht in der Öffentlichkeit, nicht alleine, nicht daheim, nachts, im Bett. Nicht unter der Dusche, nicht beim Busfahren, nicht wenn der Druck hinter den Augen so stark wird, dass man die Augen nach oben verdrehen und dabei blinzeln muss, um die Tränen wieder zurück zu schwemmen. Ungewollte Tränen, die gar nicht erst hätten entstehen dürfen. Fremdkörper im Kopf, die mich schwach machen wollen. Die sich durch die hohlen Stellen zwischen den Gitterstäben durchpressen wollen, um jeden Preis.  Die sich durch die Knochen durchdiffundieren und dabei verdampfen.

Wo ist der Punkt, an dem Überleben das Gleiche wie Sterben bedeutet. Gehört der Tod zum Überlebensinstinkt? Wölfe, so steht es in einem anderen Bericht, beißen sich manchmal selbst die Beine ab, um einer Falle zu entkommen. Meistens sterben sie danach aber am Blutverlust. Ein sowohl tierisches als auch menschliches Dilemma. Die Kraft und den Willen zu haben, sich selbst aus einer bedrohlichen Lage zu befreien, die einzig verfügbaren Mittel sind solche, die noch mehr Schaden anrichten. Und dennoch ist einem dieser Schaden in jedem Fall lieber, denn das bedrohliche ist nicht das Verlieren an sich, sondern das Verlieren der Entscheidungsfähigkeit. Denn wenn ich mich dazu entschließe nichts zu spüren, dann tut es auch nicht weh.

Meine Routine ist mein Baumstamm. Ein rundes, langes Stück Holz das im Wasser schwimmt und zu dem ich immer zurückkehren kann. Meine Boje. Ich gähne, gehe schlafen, schwimme eine Runde im Traum und als ich aufwache klammere ich wieder an meinen Baumstamm. Ich gähne, gehe in die Uni, fahre mit der U-Bahn und klammere mich an meinen Baumstamm. Kein Reflex, sondern bewusste Entscheidung. Kein Überlebensinstinkt, sondern gelerntes Verhalten.

Bevor ich den Zoo verlasse um nach Hause zu fahren komme ich noch einmal am Eisbärenbecken vorbei. Der Eisbär und das Baby spielen mit einem Ball. Als ich stehen bleibe und den beiden zusehe, gähnt der Eisbär plötzlich, schwimmt eine Runde und klammert sich dann wieder an seinen Baumstamm.

 

Kontinentalklima

„Irgendwo auf der Welt ist immer Sommer“ singt jemand im Radio. Das ist falsch und es macht mich wütend. Wenn irgendwo auf der Welt Frühling ist, dann ist woanders bestenfalls Herbst, aber ganz bestimmt nicht mehr Sommer. Und Herbst ist fast schon wieder Winter und wer will überhaupt einen Dauer-Sommer? „Irgendwo, Irgendwo ist immer Sommer, Sommer, immer immer immer Sommer“ – ich wünsche mir, dass irgendjemand beim Radio anruft und dem Mann einen kurzen Crashkurs in Geographie 4. Klasse erteilt. Ich hasse diesen Liedtext bereits jetzt schon mindestens genauso sehr wie unlogische Filmszenen (natürlich haben sie beide auf die blöde Türe gepasst) oder unlogische Wörter (Doppelhaushälfte!). Und auch in Streifen geschnittene Sellerie ist immer noch Sellerie und sind keine Pommes Frites.

Vielleicht gab es mal eine Zeit in der ich das geleugnet hätte. Eine Zeit in der in Streifen geschnittene Sellerie mit Ketchup wie eine fettige Fast-Food Sünde geschmeckt haben und in der Gemüse in Wasser gedünstet eine asiatische, vollwertige Mahlzeit war. Eine Zeit in der immer Winter war (Immer Winter, Winter immer immer immer Winter). Eine Zeit, in der mein Gehirn in Dauerschleife, genau wie dieses dämliche Lied, monoton ratternd immer wieder dieselben sinnlosen Sätze dahingeträllert hat, wie eine kaputte Schallplatte. Grenzenlose Phantasie und begrenzte Möglichkeiten mündeten in Sellerie-Pommes-Frites und Hüttenkäsemayonnaise.

Viele Menschen fragen sich ja, warum Vegetarier überhaupt Fleischersatz essen, oder sich Burgerpatties aus Erbsen statt richtigem Fleisch kaufen. Ich glaube die Küchenpsychologie dahinter ist ganz ähnlich wie bei der Knäcke-Pizza (1 Knäckebrot, 1 TL Ketchup, ¼ Paprika, 1 TL Hüttenkäse, dann für 3 Minuten in die Mikrowelle). Der Verzicht macht komische Dinge mit unserem Gehirn. Sobald wir etwas nicht(mehr) haben können, wollen wir es plötzlich umso dringender. Wenn wir auf etwas verzichten, dann steigt der Stellenwert dieser Sache in unserem persönlichen Ranking und lässt uns denken, dass dieses rare Gut etwas Besonderes, etwas Wertvolles ist. Und das macht die Sache natürlich attraktiver und unerreichbarer. Logisch wäre es, diese Rarität in Maßen zu konsumieren. Essstörung ist, wenn man diesen Kompromiss nicht eingehen will und stattdessen Knäcke-Pizza erfindet. Denn so hat man vermeintlich beides. Den Genuss und den Verzicht. Und genauso wie die wertvolle Rarität brauchen wir den Verzicht. Denn der Verzicht wiederrum gibt uns das Siegel „wertvoll“. Wertvoll, weil man besonders ist und weil man Bedürfnisse ausknipsen kann. Zack. Einfach so. Wie einen Lichtschalter. Das Problem dabei ist, dass man ab sofort im Dunkeln steht und man feststellen muss, dass Licht ausschalten wesentlich leichter als Licht einschalten ist.

Wenn Menschen lange Zeit im Dunkeln sind, nennt man das auch Reizentzug oder Reizdeprivation. Irgendwann fangen wir an Halluzinationen zu bekommen und unser Bewusstsein verändert sich. Man stumpft ab und verliert Gefühl über Sättigung und Hunger, über Appetit und Lust und über Geschmack. Und plötzlich schmeckt Knäcke-Pizza wie echte Pizza.

Im ewigen Winter gewöhnt man sich auch an die Kälte. Irgendwann schmecken blaue Lippen nach Weintrauben und steife Finger eignen sich hervorragend als Metronom. Monoton und gleichmäßig, routiniert und leise klopfend.

In den Nachrichten wurde berichtet, dass die geretteten Kinder aus der Höhle in Thailand nach langer Zeit in der Dunkelheit schmerzende Augen hatten, als sie sich wieder ans Tageslicht gewöhnen mussten.

Blinzeln, Sommer. Blinzeln, Winter. Blinzeln, wieder Sommer. Blinzeln, ich mag plötzlich keinen Hüttenkäse mehr. Blinzeln, ich habe statt Sellerie richtige Pommes-Frites gegessen.

Blinzeln, immer noch Sommer.

Automatische Ausschaltfunktion

Nicht schon wieder etwas über essen schreiben, denke ich mir. Dieses immer wiederkehrende leidige Thema. Wieso, frage ich mich, wieso gibt es noch so viele ungedachte, ungeschriebene, unausgesprochene Dinge bezüglich essen, wenn ich doch schon so viele Jahre damit verbracht habe mich mit nichts anderem zu beschäftigen.

Als wäre dieses Thema ein endloses langes Wollknäul, dass ich abwickele und abwickele, abschneide und dann wieder zu einem neuen Knäul zusammenrolle, nur um es dann wieder abzuwickeln, dieses Mal in die andere Richtung. Und jedes Mal frage ich mich wie lang der Faden dieses Mal ist, obwohl ich ihn schon hundert Mal ausgemessen habe.

Es ist als ob ich in einer Endlosschleife gefangen bin, einem runden Supermarkt bei dem man erst zur Kasse darf, wenn man sich wirklich ganz sicher ist dass man mit dem Einkauf fertig ist.

Denn ist es nicht so, dass ein Einkauf nie wirklich „fertig“ sein kann. Es kommt nur eben irgendwann einmal die Kasse und man entscheidet sich dann einfach weiter zu gehen, denn wenn man weitermachen wollte so müsste man doch zurückgehen. Und das wäre komisch.

Diese Gedankenspinnerei jedoch ist nicht gerade sondern rund. Sie kreist in großen runden Runden und dreht sich dabei um die eigene Achse, verzwirbelt meine Gedankenfäden -ich stelle mir vor sie sind lange dünne elastische Fäden- und spinnt ein Spinnennetz. Und ich bin nicht die Spinne sondern der Käfer. Ich bleibe kleben, in meinem eigenen Netz aus Gedanken, verfange mich und lasse mich von ihnen auffressen.  Vielleicht kommt genau daher der Ausdruck „ich spinne“ ? Denn dieses autoaggressive Gedankenspinnen kann einen wirklich verrückt machen.

Sich selbst von innen auffressen und dabei nicht satt werden. Sich selbst verdauen nur um festzustellen, dass mein Organismus umgekehrt funktioniert. Schlechtes wird aufgesaugt, gutes ausgestoßen.  Was bin ich für eine dumme Spezies frage ich mich.

Es ist als ob mein Gehirn falsch programmiert wurde. Als ob in mir ein kleiner digitaler Taschenrechner eingebaut ist, dessen Akku durch meine Gedankenspinnerei immer wieder neu geladen wird. Als ob ich täglich neue Zahlen in ihn einspeisen würde, neue Formeln eintippen würde.

Aber was wäre wenn ich den Akku einfach leer werden lassen würde? Vielleicht würde dann alles an das ich mich klammere unwiderruflich  gelöscht? Vielleicht ist mein Modell so alt, dass es ein Ausschalten nicht aushalten würde und einen Totalausfall provozieren würde? Oder wäre mein Rechner einfach nur auf Stand-By? Stumm gestellt, rot leuchtend im Hintergrund, darauf wartend wieder angeschaltet zu werden um genau dort weiter zu machen wo er aufgehört hat?

Was wäre mit all den nährenden Informationen die ich jahrelang zusammengesammelt habe? All die Kalorientabellen, die ich zynischerweise als „Mitternachtsformeln“ bezeichne, weil ich sie immer abrufen kann, bei Tag sowie bei Nacht? Mein Konvertierer, der Lebensmittel in Zahlen und umgekehrt umwandeln kann? Dem Wissen wie viele Hampelmänner einem Löffel Nutella entsprechen, wie viele Male mein Finger in meinem Hals kratzen und kreisen muss bis warmes Erbrochenes in die Schüssel platscht? Wie viel verschlafene Frühstücke Haare auf dem Kissen bedeuten. Wann plus zu minus wird und wann Kontrollverlust wieder zur Kontrolle wird? Wann minus und minus nicht plus sondern kalte Finger und Halsschmerzen ergibt? Wann weniger nicht mehr sondern wirklich weniger ist. Wann mehr Weniger weniger Mehr ist und wann es Zeit ist aufzuhören?

So ein High-Tech Gerät, denke ich mir und dennoch gibt es immer noch kein Update, dass es mich spüren lässt wann genug ist. Wie ein Iphone das zu lang in der Sonne lag, heiß gelaufen ist, sich selbst auf Stand-By setzt und eigenverantwortlich auskühlt. Ich hingegen spüre die Hitze nicht, laufe einfach weiter und weiter und merke nicht wie ich mich selbst kaputt mache. Keine automatische Ausschaltfunktion.

Vielleicht liebe ich das surrende Geräusch, wenn das Getriebe im Kreis rennt, wie ein Hamster im Hamsterrad. Vielleicht bin ich der Hamster, vielleicht das Rad, vielleicht beides.  Wenn der Hamster müde ist, dann wird er langsamer, springt aus dem Rad und legt sich schlafen. Wenn ich müde bin, dann renne ich noch schneller, drehe mich um meine eigene Achse und lege meine Vernunft schlafen.Wenn der Hamster darüber nachdenken würde, vielleicht würde er einfach stehen bleiben und darauf warten dass das Rad sich ausbalanciert. Wenn ich einfach stehen würde, vielleicht würde ich dann endlich abkühlen und darauf warten dass meine Gedanken sich ausbalancieren.

 

 

Shower Thoughts

Fünf Minuten einwirken lassen steht auf der Flasche meiner Haarspülung.

Im Hintergrund plätschert die Dusche weiter, während ich einfach nur so dastehe, die Haare zu einem eingeschäumten Knoten auf den Kopf gedrückt, darauf wartend sie wieder auszuspülen.

Das Shampoo ist fast leer, bemerke ich.  Die Spülung hingegen ist noch ganz voll. Hat es jemals schon einmal jemand geschafft Shampoo und Spülung gleichzeitig aufzubrauchen?

Noch 4 Minuten und 30 Sekunden. Bin ich eigentlich ein ungeduldiger Mensch?

Ich glaube ja. Ich will alles immer jetzt gleich und sofort, will nicht unnötig warten, will keine Zeit verschwenden. Ich will dass zwischen Wollen und Haben keine Lücke entsteht. Dass auf den Wunsch sofort die Erfüllung eintritt. Ich will, dass alles in ständigem Austausch bleibt. Wäre ich Ökonom würde ich vielleicht sagen: Zeit ist Geld.

4 Minuten.

Heute Morgen habe ich eine Frau auf der Rolltreppe angefahren: Rechts STEHEN, links GEHEN! Nachdem ich resolut an ihr vorbeigerauscht war, fuhr mir meine U-Bahn direkt vor der Nase weg.

Worüber denken andere Menschen nach, während ihre Haarspülung einwirkt?

3 Minuten 30 Sekunden.

Was genau passiert eigentlich in diesen fünf Minuten, in denen diese parfümierte cremige Masse in meine Haare langsam einsickert? Ich stelle mir vor, ich bin wie eine Pflanze und betreibe Photosynthese. Meine Haare saugen sich Nährstoffe aus der Haarkur, essen sich satt und tanken Energie.

Das ist komisch, denke ich plötzlich. Wenn meine Haare sich sattessen um kräftig und glänzend zu bleiben, dann habe ich damit überhaupt kein Problem. Wenn ICH mich hingegen satt esse, dann ist das absolut ein Problem. Abgesehen davon, dass ich ohnehin keine Vorstellung davon habe, was „satt“ eigentlich bedeutet, wie es sich anfühlt, ist satt eigentlich nur ein Synonym für „voll“ und mit der Haarspülung über den Ohren kann es schon mal passieren, dass ich anstatt „voll“ „Völlerei“ verstehe.

Voll zu sein fühlt sich an als sei man ein mit Wasser gefüllter Ballon. Wenn man ihn hin-und her schüttelt dann spürt man den Inhalt wackeln und plätschern. Wenn der Ballon zu Boden fällt dann gleitet er nicht sondern sackt schwerfällig und mit einem hässlichen Geräusch auf den Asphalt. Manchmal platzt die Haut und der Inhalt entleert sich über die ganze Straße. Dann ist der Ballon zwar leer, aber zerrissen.

Neben der Dusche liegt der blaue Badezimmerteppich. Wenn ich mich wie ein mit Wasser gefüllter Ballon fühle, dann rolle ich ihn zu Seite, knie mich auf die kalten Badezimmerfließen und lasse meine Haut platzen. Ich kratze mit meinen gefährlich spitzen Fingern im hintersten Eck meiner Kehle, suche nach den richtigen Worten, nach den richtigen Gefühlen, den richtigen Bedürfnissen, aber heraus kommt immer nur der Inhalt meines Magens, der mit einem hässlichen Geräusch in die Toilette platscht. Vielleicht ist mein Hals nicht der richtige Ort um danach zu suchen.

Dramatisch ausgedrückt ist die Toilettenspülung sowas wie der Radierer meines Lebens – in jederlei Hinsicht. Sollte es jemals dazu kommen, dass tatsächlich ein „Radierer für das Leben“ erfunden wird, dann werde ich mir auf jeden Fall einen kaufen.

Wofür man so einen Radierer alles nutzen könnte…Ironischerweise fällt mir sofort nur eine Sache ein: Ich könnte einfach essen, so viel ich will, was ich will, so lange ich will, wann ich will, wie ich will. Und dann, dann würde ich meinen Radierer nehmen, ihn über meine Haut rubbeln, solange bis ich sie dünn und transparent geschrubbt habe. Solange, bis ich sehen kann, wie das Essen aus mir herausgepresst wird und ich mit jedem Atemzug flacher werde. Bis der Radierer des Lebens alles Leben wegradiert hat.

Die fünf Minuten sind schon seit 2 Minuten rum. Die Spülung klebt immer noch in meinen Haaren, die in einem Knoten auf meinen Kopf aufgedrückt liegen. Die Dusche plätschert im Hintergrund, meine Hände sind schon etwas schrumpelig.

Vielleicht, denke ich mir, vielleicht brauche ich anstatt dem Radierer doch lieber eine Haarspülung für mein Leben. Sorgfältig auf den Körper auftragen, einmassieren, fünf Minuten einwirken lassen. Kontakt mit den Augen vermeiden, dann gründlich ausspülen.

 

 

 

An den Tagen…

An denen die schwierigste Aufgabe des Tages Zähneputzen ist.
Wenn du schon morgens fest den Plan hast, dich auf jeden Fall in der nächsten Stunde aufzuraffen, dich aus dem Bett zu rollen, zur Not mit einer Crash-Landung auf den Boden.
Wenn du mit einem knackenden Geräusch auf das Parkett knallst,
alle Viere von dir gestreckt auf dem Rücken liegend, wie ein Käfer der es nicht schafft sein eigenes Gewicht wieder umzudrehen. Platt unförmig und schwer, zu müde um dich zu bewegen, zu müde um einfach wieder einzuschlafen.
Wenn du beschliesst einfach dort liegen zu bleiben, auch wenn dir ohnehin nichts anderes übrig bleibt. So hast du wenigstens noch die Wahl. Wenn du dort liegst, eine Stunde, 2,3,4. Wenn es bereits Mittag ist und du immer noch nicht deine Zähne geputzt hast. Wenn die Wasserflasche auf dem Nachttisch zu weit entfernt ist, um sie mit dem ausgestreckten Arm zu greifen. Wenn du dich etwas nach links rollst, ohne dich wirklich zu bewegen und du die Flasche trotzdem nicht greifen kannst. Wenn du stattdessen einfach die Augen schließt und dir sagst, du hättest keinen Durst.
Wenn es bereits Nachmittag ist, du noch immer nichts getrunken hast und sich dein Mund eklig trocken und pelzig anfühlt. Wenn du noch immer nicht deine Zähne geputzt hast. Wenn dein Telefon klingelt und du schon gar nichtmehr versuchst den Hörer abzunehmen. Wenn der Postbote klingelt um ein Paket abzugeben und du immer noch auf dem Boden liegst, Arme und Beine von dir gestreckt, Mund immer noch pelzig, Atem sauer, Zähne ungeputzt.
Wenn du um 18 Uhr ein Bein langsam aufstellst, dann das andere. Wenn deine Arme schlottern und wackeln als du versuchst dich mit ihnen nach oben zu drücken. Wenn du endlich wieder auf zwei Beinen stehst und es sich schrecklich unnatürlich anfühlt. Wenn du am liebsten wieder zurück ins Bett fallen würdest, Arme und Beine angewinkelt, Decke hochgezogen bis zum Hals, Augen zu, Licht aus. Wenn du stattdessen mit schweren Armen den Deckel von der Wasserflasche abdrehst und dir langsam kühle Tröpfchen den Hals herunterkullern. Wenn du dir wünscht sie wären warm und salzig und würden dir stattdessen über die Wangen rollen. Wenn du deine Augen zusammenpresst, ganz fest, und versuchst die Müdigkeit auszuweinen, auszuscheiden, wie gefilterte Schadstoffe einfach auszupinkeln. Wenn deine Augen trocken bleiben und sich dein Hals wieder mehr zusammenzieht. Wenn dein Tränenkanal offenbar immer noch verschlossen ist und du ein weiteres Mal gezwungen bist alles wieder runterzuschlucken. Wenn ein klumpiger Haufen Matsch in deinem leeren Magen landet und dich noch fester zu Boden drückt. Wenn du dich mit schleifenden Füssen ins Badezimmer ziehst. Wenn du die Zahnbürste anstellst, Wasser über den Bürstenkopf träufeln lässt und dich währenddessen im Spiegel ansiehst. Wenn deine Augen verklebt und verquollen aus dunklen, schwarzen Höhlen hervorschauen, deine Wangenknochen sich gegen deine Haut drücken als wollten sie sich befreien. Wenn deine Mundwinkel trocken und rissig feine Linien in deine Haut gegraben haben, sodass es fast so aussiehst als würdest du immer lächeln.
Wenn deine Haare strohig und verknotet ungewaschen auf deinem Schädel aufliegen und du dich fragst, ob sie noch immer eine Farbe haben.
Wenn du die elektronische Zahnbürste in den Mund steckst, sie einfach nur hälst und von Zeit zu Zeit zum nächsten Zahn weiterfährst. Wenn aus deinem halboffenen Mund weisser Zahnpastaschaum auf dein graues Tshirt tropft und mit den anderen Flecken ein Muster bildet.
Wenn du erschöpt zurück ins Wohnzimmer gleitest, die Wasserflasche zurück auf den Nachttisch stellst und dich bauchwärts aufs Bett zurückfallen lässt. Wenn du die Augen schliesst und dir wünscht endlich einzuschlafen und du plötzlich gar nichtmehr müde bist.

Kalter Krieg

Als ich das erste Mal im Fernsehen das Wort „Problemzone“ hörte war ich 8 Jahre alt.

Ich kannte die Fußgängerzone, die zum Haus führte in dem ich wohnte und die Straße nebenan, in der war eine Tempo-30-Zone und im Schulsport, bei Brennball, da gab es eine Feuerzone, die man nicht betreten durfte selbst wenn man bereits abgeworfen wurde. Und wenn ich mit der S-Bahn in die Innenstadt fuhr passierte ich genau 5 Zonen, weil ich in der Vorstadt wohnte. Was aber bitteschön war eine Problemzone?

Doch dann lernte ich, dass genau so eine Zone bereits auch in mir wohnte und sie wie eine Zeichnung ohne Schablone, meine Statur an all den falschen Stellen betonte, schräge Linien formte und zu meiner persönlichen Kampfzone wurde.

Unproportioniert und hexagonal, unten zu breit und oben zu schmal, ausladende Hüfte, einladende Gelüste, ungleichgroße Brüste, Beine zu kurz und Arme zu lang und über alldem zu breit im Umfang. Die Liste wurde lang, zu lang.

Mit 13 wurde meine Problemzone zu einer Besatzungszone. Zu viel Schokolade und Pizza hatte es sich auf meinen Hüften bequem gemacht. Eiscreme hatte meine Oberarme erobert, eine Gummibärchen-Armee hatte meine Oberschenkel eingenommen. In der großen Schlacht von Salami erlagen die Diätjoghurts dem Vanillepudding. Die Fettzellen breiteten sich auf meinem Körper aus, beanspruchten die ganze Fläche für sich und bauten große, dicke, fette Mauern um ihr Areal.

Und doch gab es keinen Gewinner. Mein Körper erklärte den Kampf gegen sich selbst, geritten von blinder Zerstörungswut und Hass. Die Fronten waren verhärtet und schwabbelig zugleich.  Meine Knochen versteckt hinter einer Wand, viel zu weich.

Vielleicht war dieser Krieg von Anfang im Ungleichgewicht. Meine Arme, Beine und mein Herz im Bündnis, gemeinsam gegen meinen einsamen Kopf.

Mit 16 dauerte der Krieg bereits 3 Jahre und hatte schon einige Opfer verlangt. Mit psychologischer Kriegsführung und Hinterlist hatte mein Kopf es geschafft, mehr als die Hälfte der mächtigen Fettzellen aufzufressen. Hatte sich angeschlichen und sich durch die Bauchdecke gebissen, riesige Stücke Fleisch herausgerissen, ohne Skrupel und ohne Gewissen. Hatte ganze Fetzen Haut geschluckt, gekaut und ausgespuckt. Hatte in pralle Backen gegriffen, sich die Zunge scharf mit Rasierklingen geschliffen. Hatte Waden mit Hobeln ausgehöhlt und sich die Gelenke mit Essig geölt, die Kehle mit Säure ausgespült und sich im kalten Winter die blauen Lippen mit Feuer gekühlt.

Eine Fettzelle nach der anderen verendete kläglich und wurde von der Magensäure vom Schlachtfeld gespült. Manche kapitulierten und sprangen freiwillig über Bord.

4 Jahre später, der Kopf beherrscht nun mehr als 90 % meines Körpers. Wo einst einmal Fettzellen waren sind jetzt nur noch kleine rote Kreuze in die Haut geritzt.  Namenlose Gräber.

Für einen Waffenstillstand ist es zu spät. Schon lange hat der Kopf keine Feinde mehr zu fürchten, hat alle vernichtet und totgehungert. Mein Körper nunmehr nicht mehr eine Problemzone, sondern nur noch ein Problem. Knochen so hart wie altes Brot, an denen jede Kalorie abprallt wie ein Flummi vom Parkett. Es geht nicht mehr ums Gewinnen. Es geht um den größtmöglichen Schaden, den Supergau. Das Herz in seinem Bunker tritt mit letzter Kraft in die Pedale um weiterhin für Strom zu sorgen. Die Konservenreserven neigen sich dem Ende. Mit jedem Tag schlägt es ein bisschen langsamer, ein bisschen weniger.

Der Kopf hingegen rechnet fleißig weiter, unermüdlich und wacher wie nie zuvor. Addiert negative Kalorien, entwickelt neue Strategien um den Körper weiter zu reduzieren und die Gedanken noch mehr zu infizieren, mehr zu infiltrieren, mehr und mehr Gewicht zu subtrahieren, weiter an die Unvernunft zu appellieren und im Kampf gegen sich selbst zu brillieren.

Das Herz klopft im ¾ Takt während der Kopf schreit: Ich will, dass meine Finger sich um meinen Oberarm schließen. Ich will, dass meine Hosen in Kindergröße wieder passen. Ich will, dass meine Wangen so hohl sind, dass meine Augen fast aus den Höhlen fallen. Ich will, dass wenn ich aufwache ein Bündel Haare auf dem Kissen ist. Ich will so leicht sein, dass wenn ich von der Brücke springe mein Körper einfach verschwindet, ohne Aufprall. Ich will, dass wenn sie mich beerdigen, sie sich fragen, ob im Sarg überhaupt noch etwas, jemand liegt.

2 Jahre später. Kopf verwundet im Lazarett. Verkabelt an Maschinen, in Schläuche  und Bandagen gewickelt. Eines nachts hat sich das Herz aus dem Bunker geschlichen, die Lichter angeschaltet und den Mund so weit aufgerissen, dass der Körper gar nicht anders konnte, als eine Portion Licht zu verschlucken. Hat gewürgt und geröchelt, hat versucht es hochzupressen, aber nichts hat funktioniert. Die ganze Nacht lag er da, auf dem kalten gefliesten Boden im Badezimmer, in Gebetstellung kniend vor dem Klo, aber nichts kam mehr raus.

1 Jahr später. Bin jetzt eine Trümmerfrau. Baue auf, was ich einst zerstörst habe. Die Lücken zwischen den Rippen fülle ich mit Kartoffeln und Brot. Ich lege mich auf die Leinwand aus Papier, strecke die Arme und Beine von mir, als sei draußen Winter und ich liege hier, im Schnee und forme einen Winterengel.  Ich sehe dabei zu wie die Ruine meiner zerstörten Heimatstadt neu bebaut wird. Es gibt hier jetzt sogar einen Kinderspielplatz. Wunden heilen, Bäume wachsen.

Nachkriegszeit.

Schmetterlingssterben

In einer existenziellen Krise hatte ich einmal Google nach dem Sinn des Lebens gefragt und landete auf Wikipedia. Wenn nicht dort, wo sonst würde es eine vernünftige Antwort auf diese Frage geben, dachte ich mir.

Wikipedia legte mir die philosophischen Hintergründe der Sinnfrage selbst, die Rolle des Buddhismus, des Hinduismus, den Einfluss von Platon, Sokrates, die Evolution des Universums und des Existenzialismus und letztendlich sogar den Zusammenhang mit Gott dar. Doch auf Unmengen von rhetorischen Fragen folgten dennoch keine Antworten. Am Ende ließ mich Wikipedia mit einem Zitat der Band „Die Prinzen“ von 1995 ratlos zurück.

Unter der Rubrik „Humoristische Antworten“ folgerte Wikipedia abschließend:

Du musst ein Schwein sein in dieser Welt.“ (Im Text:…Du musst gemein sein in dieser Welt …). Hit von Die Prinzen, (1995)

Damit ist es dann wohl offiziell. Die einzige richtige Antwort auf die Frage, worin der Sinn unseres Lebens liegt, ist Zynismus.

Über Umwege und mindestens genauso existenziell bedeutende Fragestellungen, kam ich auf eine Seite, die mit einer „Anleitung zum Glücklich Sein“ teaserte. Zugegebenermaßen gewagt, aber werbetechnisch wirkungsvoll.

Im 90er Jahre Website-Stil plätscherte ein animierter Bach oben rechts beruhigend zu meditativen Klängen, die ungefragt und ohne Stopp-Funktion einfach drauflos spielten, sobald man das Fenster öffnete. Ich schaltete die Boxen aus.

Wenn man die Maus bewegte, dann folgte meinem Pfeil ein Schweif aus Rosen. Professionell und vertrauenerweckend also,  keine Frage.

Stepp 21 von 200 auf dem Weg zum Glücklich Sein, erklärte dass es hilfreich sei, ein Glückstagebuch zu führen. Ein Tagebuch also, in denen nur die glücklichen Momente des Tages gesammelt würden.

Jeden Tag sollte man sich also besinnen und versuchen, sich an eine schöne Sache, eine schöne Begegnung, einen glücklichen Moment der einem widerfahren ist zu erinnern.

Was für ein esoterisches Therapeutenzeugs habe ich mir gedacht.

„Notieren Sie die kleinen Dinge. Überlegen Sie einmal: Worüber haben Sie sich heute gefreut? Erwarten Sie keine großen Dinge. Seien Sie achtsam und versuchen Sie, mit offenen Augen durch den Tag zu gehen. Haben Sie heute vielleicht einen Schmetterling gesehen, wie er an Ihnen vorbeiflog oder sich neben Sie niederließ? Schreiben Sie es auf. Haben Sie eine schöne Blume gesehen? Richten Sie Ihr Augenmerk auf die Details.“

Ernsthaft? Ein Schmetterling? Ich war bereits dabei meinen Gästebucheintrag abzuschicken, in dem ich ausführlich darüber informierte, dass es seit einigen Jahren ein regelrechtes Schmetterlingssterben gäbe und dass einige Arten bereites so gut wie ausgerottet seien.

Dann schloss ich plötzlich die Seite, ging zum Bücherregal und kramte ein leeres, kariertes Din-A4 Heft heraus. „Gründe, sich nicht umzubringen“ schrieb ich auf das Etikett. Ich war schon immer eher Realist, als Optimist.

Wenn ich mich heute Frage, was der Sinn des Lebens ist, dann habe ich darauf immer noch keine Antwort. Auch auf Wikipedia steht dazu nichts Neues. Immerhin ist der Artikel mittlerweile in die Rubrik „lesenswert“ avanciert.

Dafür habe ich eine lange, lange Liste voller Antworten, warum es nicht wichtig ist DEN EINEN Sinn des Lebens zu ergründen. Ich habe eine Liste voller Dinge, die allein und für sich, Sinn genug sind, den Nicht-Sinn des Lebens anzuzweifeln. Was ich meine ist:

Heute habe ich auf dem Weg nach Hause eine Katze gesehen. Als ich versucht habe sie zu streicheln, ist sie nicht vor mir weggerannt. Ihr Fell war weich und getigert. Ein Tag, an dem man eine Katze streichelt, ist kein Tag an dem man sich umbringt.

Ich blättere weiter.

Heute habe ich habe heute einen erstaunlich gleichmäßigen Lidstrich gezeichnet. Der Tag, an dem man den perfekten Lidstrich zaubert, ist keiner, an dem man sich umbringt.

Heute habe ich den Bus bekommen – ohne Rennen!

Heute wurde ich an der Kasse im Supermarkt vorgelassen.

Heute habe ich geweint ohne meine Mascara zu verschmieren.

Heute habe ich zum ersten Mal die neuen Nachbarn gesehen.

Heute habe ich den Wissenstest des Tages auf ZEIT.de mit 7/8 Punkten geschafft – ohne Google!

Heute habe ich es aus dem Bett geschafft und sogar zum Briefkasten.

Heute habe ich es rechtzeitig ans Telefon geschafft.

Heute habe ich eine wirklich hübsche Paprika gekauft.

Heute habe ich endlich ein paar alte Dinge ausgemistet.

Heute habe ich an meinen Regenschirm gedacht.

Heute habe ich an meinen Regenschirm gedacht, aber es hat gar nicht geregnet.

 

 

Ist das Kunst oder kann das weg?

Doch vergingen wieder viele Tage, und auch das nahm ein Ende. Einmal fiel einem Aufseher der Käfig auf, und er fragte die Diener, warum man hier diesen gut brauchbaren Käfig mit dem verfaulten Stroh drinnen unbenutzt stehenlasse; niemand wußte es, bis sich einer mit Hilfe der Ziffertafel an den Hungerkünstler erinnerte. Man rührte mit Stangen das Stroh auf und fand den Hungerkünstler darin. »Du hungerst noch immer?« fragte der Aufseher, »wann wirst du denn endlich aufhören?« »Verzeiht mir alle«, flüsterte der Hungerkünstler»

(…)

Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders«, sagte der Hungerkünstler. »Da sieh mal einer«, sagte der Aufseher, »warum kannst du denn nicht anders?«

 »Weil ich«, sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verlorenginge, »weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.«

Das waren die letzten Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, daß er weiterhungere.

– aus Franz Kafkas „Ein Hungerkünstler“ (1922)

95 Jahre ist bereits her,  dass Kafkas Hungerkünstler in seinem Käfig den Hungertod gefunden hat. Schon damals sei das Interesse an Hungerkünstler sukzessive zurückgegangen sein, berichtet Kafka. Der Hungernde hatte es schwer, die Massen für sich zu begeistern. Der video killed the radio star – Effekt machte auch vor der Hungerkunst keinen Halt.  Die Kunst des Hungerns war selbst am Verhungern. Doch wie jeder Trend wird alles irgendwann einmal wieder modern. So auch das Hungern. Neben Leggings, Neonshirts und Schlaghosen kam auch das Hungern wieder in Mode.

Was also macht den modernen Hungerkünstler von heute aus?

Ich stelle mir vor, wie sich die Hungerkünstlerin in ihren Käfig begibt. Das ist der erste Unterschied: Der Hungerkünstler von heute ist weiblich.

Schon immer wollte sie die Menschen mit ihrer Hungerkunst begeistern. Doch niemand glaubte daran, dass sie eine gute Hungerkünstlerin sei. Niemand wollte ihr einen Käfig geben. Da bastelte sie ihn sich kurzerhand selbst. Die Menschen werden schon kommen, wenn sie sehen, welche Fähigkeiten sie in sich birgt.  Über den Boden verteilte sie Stroh und leere Kaugummipapierchen, die Wände beklebte sie mit Kalorienangaben. Es sollte alles echt wirken. Einen Schlüssel gab es nicht. Nur ein paar Maßbänder hingen von der Decke wie Seile. Über ihnen fällt ein Spalt Sonnenlicht hinein. Irgendwann wird sie leicht genug sein und an ihnen aus dem Käfig hinausklettern.

Und tatsächlich, die Menschen kommen. Anfangs skeptisch, hat sie mittlerweile eine richtige Stammgemeinde für sich gewinnen können. Auch die bösen Zungen bleiben nicht aus. Sie würde heimlich essen, sagen sie. Die Hungerkünstlerin ist entschlossen auch die Kritiker zu überzeugen. Selbst das Wasser lässt sie weg.

Einmal versuchte sie über das Maßband zu entkommen. Doch genau in diesem Moment kam einer vorbei, nur um nachzusehen ob die Hungerkünstlerin noch am Leben war. Das Gewicht der Scham zog sie sofort zu Boden.

Mittlerweile ist ihre Haut fast so transparent wie das kurze Kleid das sie trägt. Jede Rippe scheint durch den Stoff hindurch.  Um sie herum Menschen, die sich an ihrer Erscheinung ergötzen. Wie gerne würden auch sie einmal ihre dünnen Arme betatschen nur um Zeuge ihrer Magerkeit zu sein. Es ist Sensationsgier und Faszination zugleich. Irgendetwas an ihrer fragilen Erscheinung provoziert die Aufmerksamkeit der Zuschauer.  Vielleicht ist es ihre Entschlossenheit, vielleicht ihre Disziplin, vielleicht ihre aufrechte Haltung. Vielleicht sind es die Augen, die so scharf und klar sind, dass sie geradeaus durch sie hindurchsehen können.

Doch nach Jahren des Hungerns ließ das Interesse der Menschen stark nach. Manchmal kamen Menschen und tuschelten. Die Eltern schoben die Kinder am Käfig vorbei und hoben ihnen die Hand vors Gesicht, sodass sie keinen Blick auf den ausgezehrten Körper der Hungerkünstlerin werfen konnten. Einmal kam einer, der versuchte ihr eine Scheibe Brot durch die Gitterstäbe hindurchzuschieben. Doch die Hungerkünstlerin zog die Hand zurück und verneinte. Zu groß die Angst davor, das ganze Hungern sie umsonst gewesen.

Eines Nachts sah sie durch den dünnen Spalt eine Sternschnuppe über sich hinwegfliegen. Sie schloss die Augen und dachte fest an ihren größten Wunsch. Sogleich darauf, griff sie mit Schwung nach dem Maßband. Dieses Mal klappt es. Das Band schwenkt ein wenig von links nach rechts. Die Öffnung des Käfigs war bereits zum Greifen nah.  Mit einer Hand in Freiheit, fällt sie plötzlich rückwärts zu Boden. Ihre Kraft hat nicht ausgereicht.

 

 

 

16,6 %

Wisst ihr, wie groß das Risiko ist, sich die tödliche Kugel im Russisch Roulette in den Kopf zu jagen? Die Antwort lautet 16,6 %. Wikipedia nennt es ein „potentiell tödliches Glücksspiel.“

Man ist quasi zu 16,6 % suizidgefährdet.

Ich frage mich: Wieso werden Essstörungen auf Wikipedia eigentlich nicht auch als potentiell tödliches Glücksspiel beschrieben? An Magersucht sterben nach den neuesten Statistiken etwa 10-15 %. „Essgestörte haben ein Suchtgehirn“ sagt meine Therapeutin hin- und wieder und ich glaube ich verstehe jetzt was sie meint.

Ich spiele schon lange. In der Spielhalle nebenan kennt man mich. Ich habe meinen Stammplatz und meine Lieblingsautomaten. Der Inhaber kennt mich beim Vornamen. Ich bringe immer ein Handtuch, eine Wasserflasche und meine Musik mit. Zu schnellen Aerobic-Techno-Pop-Remix-Sounds steuere ich meine Arme und Beine mit den 2-Kilo Hanteln durch den Trainingsparcours. Ich springe über Hindernisse, weiche blitzschnell aus, drücke genau im richtigen Moment. Jackpot. Der Schrittzähler blättert geräuschvoll. Der Kalorienverbrauch ist mein Gewinn. Ich will mehr, noch mehr. Bei -1200 Kalorien muss ich weitere Münzen einwerfen, aber ich habe nichts dabei. Aber das macht nichts, denn ich lasse mir die Extrakosten einfach immer aufschreiben, mit dem Versprechen dass ich wieder kommen und zahlen werde, dass ich daheim alles nachholen werde, dass ich die fehlenden Kalorien wieder gut machen werde. Das scheint kein Problem zu sein. Ich bin ein guter Kunde.

In Wahrheit zahle ich meine Spielschulden nie. Ich kann nicht, habe doch gar kein Geld mehr auf dem Konto. Aber genau deswegen spiele ich ja, um mehr zu verdienen. Sodass ich irgendwann eine riesige Summe gewinnen werde, mit der ich alles abbezahlen kann. Der Weg dahin ist steinig: Aber Erfolg kommt eben nicht von Ungefähr. Irgendwann werde ich gewinnen und dann werde ich zufrieden und glücklich sein.

Es ist spät, schon fast 9 Uhr. Eigentlich sollte ich nach Hause gehen. Aber ich bin hier noch nicht fertig. Da geht noch mehr, das spüre ich. Gerade eben kam mir eine ganz fixe Idee, wie ich mein Kalorienkapital noch weiter steigern kann. Also renne ich weiter, immer weiter, die Techno-Musik dröhnt in meinen Ohren.

Auch daheim dröhnt es weiter. Überall stehen Automaten, überall Coins und Chips. Der wichtigste Automat ist der im Badezimmer. Wie ein Altar thront er neben der Waschmaschine. Ich ziehe meine Kleidung aus und mache einen Schritt auf die Waage. Die digitalen Ziffern wandern langsam nach oben und ich versuche, im richtigen Moment zu stoppen. Ich versuche den Hebel in der richtigen Sekunde zu ziehen, versuche die gewinnende Zahl zu erzielen. Es ist ein bisschen wie Lotto. Die Zahlen ändern sich stets, bleiben nie gleich. Jede Woche sind es neue Werte, die mir den gewinnbringenden Sieg verschaffen. Anstatt sechs, gibt es hier nur vier Treffer. Jede Ziffer zählt, auch die hinter dem Komma. Die Chancen stehen 1:1000000.

In der Küche verwandelt sich meine Gabel in einen Revolver und zeigt mit ihren spitzen Zacken auf mich. Ich öffne den Mund, in dem Wissen, dass jeder Bissen einer zu viel sein kann. Jedes Mal wenn ich die Gabel wieder zum Mund führe, kalkuliere ich das Restrisiko.

Mit der Gabel in der Hand denke ich:  Was sind schon 16,6 Prozent?

Reportage zum Thema Essstörungen -Aufruf!

Anbei stelle ich für euch einen Aufruf von Daniela von der Produktionsfirma 99pro bereit. Ich finde, dass es wichtig ist authentische und ehrliche Berichte zum Thema Essstörungen an die Öffentlichkeit zu bringen. Gerade ein so oft missverstandenes und medial geprägtes Thema braucht die öffentlichkeitsaufmerksame Aufklärung von Seiten Betroffener.

Daher seid ihr, die ihr das lest und ins Profil passt, herzlichst aufgerufen euch zu melden, falls ihr euch vorstellen könnt an so einem Bericht mitzuwirken.

 

ERZÄHL UNS DEINE GESCHICHTE!
Wir suchen Kinder und Jugendliche (ca. 5-17 Jahre alt), die sich infolge einer Erkrankung in einer schwierigen Lebenssituation befinden. Wir möchten Familien, denen aufgrund solcher Schicksale eine besondere Stärke abverlangt wird, die Chance geben, sich mitzuteilen und andere an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen. Um Verständnis zu schaffen und um Mut zu machen. Unsere Reportage wird absolut authentisch erzählt, das heißt: Wir passen uns deinem Lebens-Rhythmus an.
Ein halbes Jahr möchten wir Euch im Alltag und bei wichtigen Ereignissen begleiten. Für die Reportage sind ca. 10 Drehtage geplant. Wenn Du Dich von uns mit der Kamera begleiten lassen möchtest, dann kontaktiere uns.
Tel.: 0341 97 4251 71
daniela.franzisi@99pro.de http://www.99pro.de

Pro Ana Salonfähig

Schuld ist ein ziemlich ekliges Wort. Schuld schmeckt selbst mit Zuckerguss noch bitter. Verständlich also, dass man als guter Gastgeber besser nicht zugibt, dass man den Kuchen mit einer Prise Schuld gewürzt hat. Lieber reicht man die Schuld durch die Reihen weiter, bis sie irgendwo wieder an anderer Stelle auftaucht und man mit erhobenem Zeigefinger rufen kann: „Da ist sie, die Schuld!“

Als bereits vor mehr als einem Jahrzehnt das Internet-Phänomen „Pro Ana“ seine Hochphase erlebte, konnte man beobachten wie der Schuldbegriff durch die verschiedensten Institutionen wanderte und letztendlich bei den Medien hängen blieb. Vor allem Formate wie „Germanys Next Topmodel“ oder Magazine wie die „Vogue“ sollten die sein, die Schuld waren – an allem. Am vorherrschenden Frauenbild, an dem Magerwahn, dem geringen Selbstbewusstsein junger Mädchen, an den skurrilen Vorlieben der Modeschöpfer, an Programmen wie Photoshop, an der Ungleichbehandlung beider Geschlechter…die Liste könnte unendlich fortgesetzt werden. Ein Sündenbock für längst bestehende gesellschaftliche Probleme und Entwicklungen wurde identifiziert.

Innerhalb der Medien wurde wiederum ein interner Kampf ausgefochten. Die Magazine warfen die Schuld über den Zaun in den Garten von Heidi Klum. Das Modelformat bezichtigte große Marken und Designer und die nahmen letztendlich den Schuldklumpen und schickten ihn zurück wo er hergekommen war. Ein Kreislauf.

Mit neuen Gesetzen und dem Sperren zahlreicher Websites flachte die Diskussion langsam wieder ab. Hin und wieder ploppte ein kleiner Zeigefinger auf, zum Beispiel als ein Laufstegmodel an den Folgen ihrer Magersucht verstarb, oder als Isabelle Caro 2007 das „No Anorexia“ Plakat authentisch bebilderte. Aber vordergründig war die Message eindeutig: Die Medien-und Modewelt hatte verstanden. Magermodels wurden verboten, Seiten gesperrt, Hilfskampagnen gestartet. Also nehmt gefälligst den Zeigefinger runter und sperrt die Schuld wieder zurück in den Tresor.

2016 ist von dem mahnenden Zeigefinger nichts mehr geblieben. Pro Ana ist salonfähig geworden. Insbesondere ein Artikel, den ich erst gestern entdeckt habe, hat mich besonders schockiert.

„An Weihnachten nicht zunehmen? So geht’s!“ lautet die Headline in der Rubrik „Gesundheit“ des Frauenmagazins Brigitte. Ein Salatweihnachtsbaum mit Beerenkugeln, der auf einem Teller liegt, leitet den Artikel ein. Ich habe diese Art Foto schon einmal gesehen. Lange ist das her, sehr sehr lange.2005 muss das gewesen sein, als auch ich den Weg in die geheime Pro-Ana Welt des Internets gefunden habe. Vorbei an schwarz-weiß gifs blutender Unterarme, vorbei an Zeichnungen von dürren Elfenwesen mit gebrochenen Flügeln, bis hin zum Portal des Forums „Thindarella“ das einen leeren Teller mit einem Salatblatt als Titelbild gewählt hatte. „Dont Eat“ stand kursiv und in Times New Roman darunter. Dont Eat war auch das Motto der Thindarellas. In der Rubrik „Tipps und Tricks“ gab es die entsprechende Anleitung dazu.

Im Artikel sind es keine Tipps oder Tricks – es sind Strategien. Nichtsdestotrotz kommen mir auch die unheimlich bekannt vor.

Strategie 1 zum Beispiel, lautet:

„Essen elegant umschiffen“

Ich lache innerlich in mich hinein und denke daran wie unelegant doch meine ersten Umschiffungsversuche waren. Wie ich täglich allergischer gegen hochkalorische Nahrungsmittel wurde, vom Vegetarier zum Veganer zum Frutarier wurde, eine ganz spezielle Lacto-Ovo-Gluten-Fructose-Intolreanz vermutete und wie ich mir alle zwei Wochen einen bösen Magen-Darm-Infekt eingefangen hatte.

Strategie 2 rät:

„(…) anstatt mit der Familie bis in die Puppen rumzuhängen und bunte Teller leerzuessen (…)“

lieber ein bisschen mehr zu schlafen.

Das ist einfach denke ich mir. Wenn man den ganzen Tag damit beschäftigt ist Kalorien zu zählen, Essen zu planen, Essen zu betrachten, Rezepte zu wälzen, Pizzacollagen zu basteln und Kekse zu backen, dann hat man ohnehin keine Energie für Familienabende mehr.

Besonders Strategie 3 sticht mir ins Auge:

„Echt cool – eure Wohnung.“

Hier wird geraten die Zentralheizung auszustellen.

„(…) Je kälter der Raum, desto mehr muss der Organismus ackern, um sich auf Betriebstemperatur zu bringen. (…).“

Ich erinnere mich. Im „Tipps und Tricks-Thread“ der Thindarellas war das Eiswasserbad wochenlang der heisseste Tipp. „Ich habe gehört dass Ana C. Reston sich immer in eine mit Eiswürfeln gefüllte Badewanne gelegt hat um Kalorien zu verbrennen“ wurde diskutiert. „Habt ihr es schon probiert? Funktioniert es?“ Jeder im Forum wusste wer Ana C. Reston war. Als das brasilianische Model 2006 an Organversagen starb, betrug ihr BMI 13,2.

Auch die Strategien 4 bis 10 klingen verdächtig nach eben jenen Strategien, die einst von sehr kranken Mädchen entwickelt wurden und dann tausendfach und in zig Sprachen in die weite Welt des Internets getragen worden sind. Das Stichwort „Pro Ana Tipps“ führt bei Google zu unzähligen Treffern, die auf Blogs wie beispielsweise diesen hier führen: https://mirror-mirror-on-the-wall.jimdo.com/hunger/. Wenig überraschend, dass ich fast alle Strategien des Brigitte Artikels auch hier vorfinde.

Wie kann es sein, frage ich mich, dass eine Frauenzeitschrift ganz ungeniert so etwas schreiben kann und sich im nächsten Augenblick für selbstbeständige und unabhängige Frauen aussprechen kann und dass niemand einen Widerspruch hierin sieht?

Sind das wirklich die Dinge, die Frauen an Weihnachten beschäftigen? Kalorienverbrauch durch Frieren?

Wenn Angela Merkel einen besseren Geschmack in puncto Hosenanzüge aufweisen würde und an Weihnachten weniger schlemmen würde, hätten wir dann bereits Fortschritte in der Asyl-und Flüchtlingspolitik verzeichnen können? Hätte die Finanzkrise verhindert werden können? Wenn Hillary Clinton Eiswasserbäder genommen hätte, hätte sie vielleicht die Wahl gewonnen?

Haben Frauen jahrhundertelang für Emanzipation gekämpft, um sich heute, 2016, darüber zu definieren, wie wenig sie an den Weihnachtsfeiertagen zunehmen können?

Kommen wir zurück zu der Frage nach dem Zeigefinger und der Schuld. Sind wir vielleicht selbst daran schuld? Sind es wir Frauen, die nach solchen Inhalten verlangen und sie insgeheim, wenn keiner hinschaut, verschlingen wie einen Low-Cal-Soja-Latte-Schokochino mit Stevia? Wollen wir die Karrierefrau sein, die verdammt sexy in ihrem Bleistiftrock aussieht und mangelnde Kompetenz mit Attraktivität ausgleichen kann? Wollen wir die Super-Power-Frau sein, die Kinder und Karriere unter einen Hut bringt und neben ehrenamtlichem Engagement noch Zeit dafür findet jeden Sonntag Kuchen zu backen? Die, die mit einer Pizza in der Hand auf dem Laufband steht und einem Ideal hinterherrennt, dass sie innerlich verteufelt? Ich habe ein bisschen Angst davor, dass die Antwort ja lautet. Denn es ist nun einfach mal so, dass die Redaktion jeder Modezeitschrift und jedes Frauenmagazins zum Großteil aus Frauen besteht.

Die Nachfrage bestimmt das Angebot, würden Wirtschaftswissenschaftler vermutlich sagen. Und um für das nötige Marktgleichgewicht zu sorgen, müssen Frauen an Weihnachten fasten und Männer Rehbraten verspeisen.

Besagten Artikel habe ich über die Brigitte-App gefunden. Ich habe sie mir selbst heruntergeladen. Gerne beschwichtige ich mich selbst, dass ich die Inhalte darin ja gar nicht wirklich ernstnehmen würde, dass ich nicht so oberflächlich bin. Und doch sitze ich hier, an Weihnachten und tippe 2000 Zeichen zum Thema Abnehmstrategien. Eine Ansicht, die salonfähig geworden ist, das ist eine die früher mal inakzeptabel und als zu extrem angesehen wurde. Eine, die heute den Nerv der Zeit trifft und irgendwie, auch wenn man es nicht so recht zugeben möchte, genau das widergibt, was man eigentlich denkt.

Vielleicht sind es also nicht die Medien, die Zeitungen, die Hochglanzmagazine, die dürren Models in Paris oder Heidi Klum die Magersucht salonfähig gemacht haben. Vielleicht sind es auch wir selbst.

Skurrile Dinge die mir als Essgestörte passiert sind (Teil 1)

Win-Win Situation

Meine damalige Mitbewohnerin in der betreuten WG, nennen wir sie mal M., kaufte sich nach langer Zeit wieder ihr erstes Müsli. Nach einem stundenlangen Streifzug durch den größten Supermarkt den wir finden konnten, entschied sie sich –Überraschung- für das mit den wenigsten Kalorien. Früchte-Haferflockenmischung mit Dinkelflocken und Rosinen. Am nächsten Morgen kam sie mit einer Tüte voll Rosinen zu mir uns strahlte: Für dich!

Ich denke ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass mich in puncto Essstörungs-Logik mittlerweile nicht mehr wirklich viel wundern kann. Das machte mich dann aber doch ein wenig stutzig. Womit ich diese Geste verdient habe, fragte ich. M. hielt mir die Tüte Rosinen noch immer vors Gesicht. Ich erinnerte mich daran wie ich meiner Familie jahrelang selbstgebastelte Traumfänger und Klorollen-Stiftehalter zu Weihnachten geschenkt hatte und wie sie, um mich nicht zu kränken, immer ein zaghaftes das-wäre-doch-nicht-nötig-gewesen Lächeln aufgesetzt hatten. Auch ich setzte nun dieses Lachen auf.

Du magst doch Rosinen, sagte sie, und ich mag sie nicht. Und da ich das Müsli wirklich am allerbesten von allen fand (natürlich nicht wegen der Kalorien) habe ich gedacht, ich sortiere die Rosinen einfach aus und schenke sie dir. Dann haben wir beide was davon. Eine Win-Win Situation!

 

Weihnachtsstimmung

Am 6. Dezember zog der Klinik-Nikolaus seine Runde durch alle Stationen des Krankenhauses und verteilte Schoko-Nikolause an die Patienten. Einzig die Diabetes-Station bekam Nüsse und Äpfel, aber ansonsten freuten sich alle über die kleine Weihnachtsnascherei.

Oben angekommen, auf Station 5, packte der Nikolaus seine letzten 20 Nikolause aus und verteilte sie an uns. Aber anstatt Freude brach Panik aus. Müssen wir das essen? fragte es von links. Gilt das als Zwischenmahlzeit? fragte es von rechts. Ich habe Angst vor Schokolade, schluchzte wer von hinten. Der Nikolaus sichtlich überfordert, blickte hilfesuchend in Richtung Schwesternzimmer. Sofort kam eine der Pflegeschwestern hinausgestürmt und versuchte die Wogen zu glätten. Haben sie denn keine Äpfel mehr? Flüsterte sie dem Nikolaus zu. Die sind im anderen Sack, der steht unten auf der Diabetes-Station. Soll ich den mal holen gehen? Die Schwester nickte. Indessen kam eine weitere, die sich um die Klärung des Missverständnisses bemühte. Alle ruhig bleiben! Rief sie. Hier habe ich eine Tüte, da werfen jetzt alle ihren Nikolaus wieder herein, okay? Keine Panik! Sofort stürmte die ganze Station auf sie zu und warf den Nikolaus angewidert wie ein faules Ei in die Tüte. Erleichterung machte sich breit.

Der Nikolaus kam mit einem anderen Sack nach oben gehechtet. Ho-Ho-Ho… rief er, wobei er sich bemühte nicht wirklich zu rufen, da er wahrscheinlich fürchtete damit einen weiteren Eklat auszulösen. Wer will Äpfel? Er verteilte etwas zögernd die Äpfel an uns, blickte noch einmal verwirrt zur Schwester, die ihm nickend bestätigte, dass die Situation auf äußerst galante Art und Weise gerettet worden war. Dann noch frohe Weihnachten! rief der Nikolaus, blickte in glückliche Gesichter und verschwand im Treppenhaus.

 

Die Schnellsten werden die Ersten sein (die fertig sind)

Hinter mir wippt eine ca. 40-jährige Frau mit lila Schal und schwarzem Wintermantel aufgeregt auf und ab und hält ihre Fingerspitzen mit Trommeln und Dribbeln auf Trab.

Und vor mir drapiert ein ca. 80-jähriger Mann demonstrativ ein Kassenband, das seine drei Tomaten, seine Hirschsalami und seinen Orangensaft sichtbar von meinem Joghurt und meinem Kaugummi trennen soll.

Auch er dribbelt und trappelt mit seinen alten Fingern im Viervierteltakt auf die Kassenverkleidung und kann es kaum abwarten endlich an der Kasse vorbeizugehen. Okay, er ist wirklich sehr, sehr alt. Aber ich bin mir doch relativ sicher, dass er die 2 Minuten und 20 Sekunden, die er noch warten muss, höchstwahrscheinlich überleben wird. Kein Grund zur Eile also. Oder doch?

Die Kassiererin zieht mit einem Zack die Paybackkundenkarte der ziemlich zornig aussehenden Frau in Lederstiefeln durch das Paybackkundenkartenerkennungsding und händigt ihr sechs Tiersticker und den Kassenzettel aus. Die Frau lässt beides zurück und zieht von dannen, hatte zum Einpacken zu wenig Zeit und zieht im Stechschritt ihre Handschuhe an – sie scheint es sehr, sehr eilig zu haben.

Ich bin auch gleich an der Reihe und laufe mich innerlich schon warm. Nach außen bin ich cool. Dieses Mal schaffe ich es, schneller als die Kassiererin zu sein. Mein Geldbeutel steckt wie eine Waffe fest in meiner linken Hand, die Rechte hält den Stoffbeutel schon einen Spaltbreit offen. Ich bin gewappnet und auf alle Eventualitäten vorbereitet. Ich bin im Wettkampfmodus.

„Piep“ macht der Warenscanner und leuchtet dabei rot. Das ist das Signal zum Start. Mit hastigen Händen hebe ich Joghurt und Kaugummi übers Gelände und bevor die Kassiererin noch „Zweieurounddreiundfünzigcent“ hinterhergeworfen hat, habe ich die Ziellinie bereits gepasst.

Jetzt, da ich mir gerade drei Sekunden kostbare Lebenszeit erwirtschaftet habe, stelle ich mir die Frage, wie ich die wohl am sinnvollsten nutzen kann.

Obwohl, stand nicht neulich irgendwo, dass Stress die Lebenszeit verkürzt? Genau wie dieses Blutdruckproblem wenn man das Essen überwürzt? Dass, wenn man sich zu sehr in Aufgaben stürzt, auch die eigene Lebenszeit, wie bei Krankheit und in aller Regelmäßigkeit, sich mit erhöhter Geschwindigkeit und höchster Dringlichkeit dem Ende zu neigt?

Dass Stress die Volkskrankheit Nummer eins ist, wenn man es in Zahlen misst. Dass sich Kopfzerbrechen letztendlich durch Synapsen frisst? Dass ein gestresster Körper nicht so schnell vergisst und Kräfteressourcen zum Frühstück isst?

Dummerweise sind durch das Denken dieses Gedankens die eben gewonnen drei gewonnen Sekunden draufgegangen.

Und ich denke mir, jetzt ist es auch egal und gehe zurück zum Kassenband, an dem ich vor einer Minute noch stand, und ich frage ob ich die Tiersticker doch noch haben kann? Und von hinten schreit einer: Ich bin zuerst dran! Also warte ich, zwei Minuten lang und schaue mir den Supermarkt mal in Ruhe an.

Und mir fällt auf, dass die Einkaufswagen blaue Griffe tragen und dass blau unter all den existierenden Farben, die ist die ich am liebsten habe. Und dass erstaunlich viele Dinge in diesem Supermarkt blau sind und dass blaue Himmel an lauen Sommertagen die schönsten sind und dass in drei Wochen ein neues Jahr beginnt und die Zeit wie Sand in Gläsern zerrinnt.

Der Mann ist fertig und ich frage erneut nach den Tierstickern. Ich bekomme vier und ich öffne sie noch direkt hier. Und, was soll ich sagen, heute muss wohl mein Glückstag sein? Denn neben Eule, Nashorn und Schwein, ist auch eine rote Katze dabei.

Ich gehe nach Hause und klebe sie über meinen Kalender, genau über das Wort Dezember. Und plötzlich sind keine Zeitabschnitte mehr da, sondern nur noch die Katze und ich und ein Jahr.

 

 

 

 

 

 

Spoken Word: Nur ein Bisschen

ABC, 3D, BCM, FDH, 1-2-3, Doppel W, Doppel D

Ich habe sie alle ausprobiert, studiert…und dann wieder ausgekotzt.

Heute habe ich Müsli gekauft. 378 Kalorien auf einhundert Gramm standen hinten auf der Packung drauf. Ich nahm mir eine Schüssel und schüttete ein bisschen hinein. Nur ein bisschen. Dann habe ich alles hineingeschüttet und noch eine Schüssel  genommen. Und dann habe ich mir die Rosinen rausgepickt. Jede einzeln. Und dann habe ich noch eine Schüssel genommen und da habe ich die Haselnüsse reingeschmissen. Und dann habe ich die Haferflocken gezählt, jede sorgfältig ausgewählt, mir dabei Geschichten erzählt…

Geschichten von irgendwann einmal, später, in zwei Jahren oder so..

Wenn ich dünn bin, schlank bin, schön und makellos. Dann habe ich das Müsli weggeschmissen und grünen Tee getrunken.

Kate Moss hat mal gesagt: Nothing tastes as good as skinny feels. Aber keine Ahnung ob das stimmt…denn dafür müsste ich dünn sein und das bin ich nicht. Ich fühl mich eher wie ein Loch, dass alles aufsaugt, wie eine halb gefüllte Badewanne, eine leere Kaffeekanne. Eine Schnecke ohne Haus, wie ne Katze ohne Maus. Wie ein Brunnen der austrocknet wenn man ihn nicht ständig wässert. Aber ich bin mir sicher, es wird besser.

Ich muss mich nur ein bisschen mehr zusammenreisen, ein bisschen mehr die Zähne zusammenbeißen, weniger Eiscreme und mehr Disziplin beweisen.

Wenn ich morgens auf der Waage stehe, die Zahlen wie eine Slot-Maschine vor mir herunterfallen sehe…dann hoffe ich, dass ich heute endlich mal Glück haben werde.  Ja, ich weiß, dass Glücksspiel süchtig machen kann, aber ich habe alles im Griff. Ich halte die Hebel in der Hand und ich bringe sie wieder zum Stillstand – aber erst dann wenn ich dünn bin.

BMI, das steht für Body-Mass-Index, oder auch Körpermassindex. Eine Skala, ein Richtwert, eine Einheit um das Ausmaß meiner Maßlosigkeit zu bemessen – auf die Kilokalorie genau. Eigentlich war ich nie gut in Mathe und eigentlich haben Zahlen mich nie wirklich interessiert. Aber seit ich weiß, wie viele Kalorien in einer Packung Gummibärchen stecken (686), seitdem bin ich von Zahlen fasziniert. Bin fasziniert davon, wie schnell sich Pizza auf Hüften addiert, wie es sich anfühlt, wenn ein Schenkel den anderen nicht mehr tangiert, wenn sich mein Bauchumfang wie von selbst reduziert und sich selbst neu inszeniert. Wie es ist, wenn nicht der Bauch sondern das Hirn regiert.

Seitdem bemesse und berechne ich alles nur noch in Zahlen. Selbstzweifel, Ängste, Sorgen und Qualen. Glück empfinde ich prozentual, Freude im Allgemeinen ist mir mittlerweile viel zu banal. Ich brauche Fakten und Ziffern und keine Gefühle. Nicht umsonst heißt es SelbstWERT.

Heute Morgen habe ich beschlossen die Uni sausen zu lassen und mich stattdessen mit wichtigeren Dingen zu befassen.  Ein bisschen mit Schokolade, ein bisschen mit Honig-Senf Marinade, ein bisschen mit selbstgekochter Marmelade, ein bisschen auch mit Brote schmieren, mit  Ei porchieren, mit Reiskörner zählen, mit Äpfel schälen, mit Hackfleisch hacken, mit Kuchen backen…verdammt, scheiß auf Reime. Ich will Torten essen und literweise Cola trinken und Beutel voll Bonbons schlucken, einfach so, ohne Kauen – ich will Banane mit Nutella essen, will Burger runterschlingen, mir eine Packung Chips reinhauen, ein ganzes Laib Käse essen, am Stück. Ich will eine Familienpizza für mich alleine, mit Salami und Schinken und Extrakäse. Ich will vor der Bäckertheke stehen und alles kaufen, das mit Zuckerguss bestrichen ist. Ich will zentimeterdicke Scheiben Butter auf meine Brezel legen, will meine Nudeln in Öl und Pesto wälzen, will Speckwürfel snacken, Sahne löffeln, ich will nicht essen ich will fressen. Ich will alles, nicht nur ein Bisschen.

Der letzte Biss hat nicht mehr so gut geschmeckt. Während ich das Eine geschluckt habe, kam das Andere schon wieder hoch. Wie heiße Lava brannte sich die Magensäure durch meine Speiseröhre und tropfte vorbei an meinem Finger in die Kloschüssel. Ich fühle mich schuldig und wertlos und dreckig und plötzlich begreife ich was der Begriff Diät-Sünde meint.  Ich wasche mir die vollgekotzten Finger rein aber mein Gewissen bleibt trotzdem schmutzig.

Wenn ich in den Spiegel schaue sehe ich überall Problemzonen. Über nur Bauch-Beine-Po wäre ich mehr als froh. Bei mir aber sind es zu breite Hüften, zu kurze Beine, zu dicke Knie, zu füllige Waden, ein gedrungener Hals, eine krumme Nase, eine hängende Brust, zu große Zähne, zu kleine Daumen und vor allem ein viel zu gieriger Gaumen.

Nur ein bisschen, sage ich mir, nur zwei Mahlzeiten und nicht vier. Nur ein bisschen weniger sitzen, dafür ein bisschen häufiger schwitzen. Ein bisschen weniger, das schaffst auch du, lass einfach ein bisschen öfter deinen Gierschlund zu.

Heute habe ich meine erste eigene Diät erfunden. FDH-FDH. Wenn man von der Hälfte nur noch die Hälfte isst, dann purzeln die Pfunde wie von selbst. Wenn man blaue Teller nimmt, dann sieht das Essen viel größer aus und man hat viel weniger Hunger und wenn man alles in winzig kleine Stücke schneidet dann auch. Wenn man vor dem Essen ein Glas Essig trinkt, dann wird einem so schlecht, dass man kaum etwas herunterbekommt. Ach ja und wenn man nackt vor dem Spiegel isst, schmeckt alles nur noch halb so gut.

Wenn man die eine Hälfte halbiert, dazu noch minus zwei addiert und sich dabei immer mehr selbst minimiert, die Freude den Spaß und das Leben verliert, den ganzen Tag über nur friert und den Hass und die Wut auf sich selbst zelebriert….dann purzeln die Pfunde wie von selbst.

Auf der Waage stehend denke ich mir, nur noch ein bisschen mehr, statt vorne fünf lieber vier. Und diese eine Falte hier, die muss weg, am besten heute noch.

Kann es Zufall sein dass sich Magensäure auch durch Knochen frisst? Dass man Leistungen in Kalorien bemisst? Dass das Wort Bisschen sowohl Adverb als auch Nomen ist?

Heute habe ich eine Schüssel Suppe in der Mikrowelle aufgewärmt. Acht Mal. Jedes Mal wenn ich es geschafft habe einen Schluck zu nehmen, war die Suppe schon wieder kalt. Eigentlich wollte ich heute auch ins Kino gehen. Ich war aber so müde und meine Beine waren so schwer, dass ich einfach liegen geblieben bin. Eigentlich wollte ich mir dann eine DVD anschauen, wenn ich schon nicht ins Kino gehe, aber die Fernbedienung lag so weit außen und meine Hände waren so schwer, dass ich einfach aus dem Fenster geschaut habe. Während ich aus dem Fenster geschaut habe, überlegte ich kurz, ganz kurz, ob ich aufstehen soll. Aber das wäre die Mühe wohl nicht wert gewesen.

Wenn weniger mehr ist, dann brauch ich noch ein bisschen mehr.  Ein bisschen weniger wiegt ja auch nicht schwerer. Ein bisschen mehr leer und weniger schwer – das ist es was ich brauche: nicht weniger und nicht mehr.

Kate Moss hat mal gesagt: Nothing tastes as good as skinny feels. Aber keine Ahnung ob das stimmt, denn dafür müsste ich noch etwas fühlen und das tue ich nicht.

 

 

Not Every Suicide Note Looks Like A Suicide Note

 

Früher war ich besessen von Dokus, Filmen, Filmchen, ja einfach allem das auch nur im Entferntesten etwas mit Essstörungen zu tun hatte. Stundenlang habe das Internet durchscrollt, auf der Suche nach irgendeinem Bericht den ich nicht schon irgendwann einmal gesehen hatte. Vom „No Anorexia-Poster“ auf dem mir Isabelle Caro entgegenblickte habe ich mich nicht abgeschreckt sondern getriggert gefühlt – sie hatte schließlich ein eigenes Plakat. Gegessen habe ich immer sehr langsam, aber jeden Artikel, jede Reportage habe ich sekundenschnell verschlungen. Lauren Greenflieds „Thin“ habe ich nicht als Doku sondern als Spielfilm verstanden. Habe mitgefiebert wenn Wiegetag war, habe geweint gelacht und mich vor der Pizza geekelt.

Vielleicht war ich auf der Suche nach irgendetwas, das ich noch nicht kannte. Irgendetwas, das ich noch nicht wusste, das ich noch nie gelesen hatte. Vielleicht wollte ich auf neue Informationen stossen. Vielleicht gab es da draußen noch irgendein Diät-Geheimnis das ich nicht kannte.

Es hatte immer einen ganz besonderen Reiz meine Welt von außen und in HD zu betrachten, meine Gedanken aus dem Mund einer anderen zu hören. Meine Idole waren keine Popstars oder Schauspielerinnen. Ich hatte keine Poster von Britney Spears an meiner Zimmerwand hängen und habe nicht den Style der Frauen aus der Vogue kopiert. Meine Idole trugen Nasensonde, Krankenhauskittel und Kleidergröße 32.

Irgendwann stieß ich auf eine Anti-Anorexie Kampagne aus Kanada. The Looking Glass Foundation hatte eine kleine Serie im Werbespot-Format auf Youtube hochgeladen. Der Titel der Kampagne lautete: Not every suicide note looks like a suicide note. Sinngemäß also so etwas wie „nicht jeder Abschiedsbrief sieht aus wie ein Brief.“ Diese Spots stimmen mich bis heute sehr nachdenklich. Gelegentlich schaue ich sie immer noch an und grusele mich sogar ein bisschen. Ganz ohne Worte, ohne Text, ohne Schockfotos und ohne viel Dramatik ist jeder dieser Spots so eindrucksvoll, dass ich eine Gänsehaut davon bekomme. Die Bilder sind kühl, nüchtern, leise. Es passiert nicht viel, manchmal merkt man kaum dass sich das Bild verändert. Die Musik ist leise, fast schon lautlos. Die Figuren sind keine Protagonisten, sondern fügen sich einfach so in das Geschehen ein. Fast schon unmerklich gehen sie einfach ihrem Alltag nach, lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, lassen sich nicht anmerken dass sie beobachtet werden. Vielleicht merken sie es sogar wirklich nicht.

Ich habe sie mir immer und wieder angeschaut. Habe versucht herauszufinden warum ich von diesen Spots, die meist nicht einmal eine Minute dauern, so fasziniert und gleichzeitig beklommen bin.

Dann wurde mir klar was es war. Jeder dieser Spots ist wie die Krankheit selbst. Der Einstieg erfolgt irgendwo, fast schon willkürlich. Man sieht nicht was davor passiert. Man steigt einfach ein. Irgendeine beliebe Szenerie, ein ganz normales Zimmer. Es könnte überall sein, das Zimmer hat absolut nichts Charakteristisches, wirkt fast schon zu alltäglich. Fast käme man auf die Idee das alles hier sei langweilig. Und doch passiert etwas. Ein junges Mädchen zeichnet Striche – nicht auf Papier, sondern an die Wand. Alles ist leiste, keine Hintergrundgeräusche. Nur das Zeichnen des Strichs kratzt leise an der Tapete. Die Striche sind merkwürdig kurz und gebogen. Ein kleiner Abstand ist zwischen Ihnen. Das Mädchen beschriftet: June. Dann tritt sie zurück, schaut kurz auf die Wand und lehnt sich schließlich dagegen. Not every suicide note looks like a suicide note wird eingeblendet. Dann wird das Bild dunkel. Was danach passiert weiß man nicht. Man muss es auch gar nicht wissen. Alles was wichtig ist wurde bereits gesagt – wortlos.

Irgendwo, irgendwann schleicht sich die Krankheit ein. In irgendein beliebiges Kinderzimmer. Sie kommt nicht mit Vorgeschichte, kommt ohne Ankündigung, macht keinen Lärm. Alles Drumherum erscheint normal. Kein Geschrei, kein Weinen. Die Krankheit kommt leise, kommt fast schon unter der Türe hindurchgeschlichen. Die Striche wirken merkwürdig. Irgendwas geht hier vor sich, soviel weiss man da schon. Doch was es ist sieht man erst nachdem man die weiteren Striche erkennt. Als der letzte Strich datiert wird ist es bereits zu spät- Wenn man die Krankheit erkennt ist es bereits zu spät. Alles Merkwürdige davor ist einfach nur merkwürdig. Das Mädchen spricht nicht, sie zeichnet. Zeichnet Körperumrisse, zeichnet ihren Taillenumfang. Lässt sich immer kleiner werden und dokumentiert ihre Fortschritte. Sie verschwindet nicht unsichtbar sondern hinterlässt Notizen. Aber es sind Notizen, die durch Vorziehen des Vorhangs verhüllt und übersehen werden können. Und wer würde schon in diesem ordinären Zimmer auf die Idee kommen hinter dem Vorhang einen Abschiedsbrief zu finden? Und spätestens hier wird klar: Jeder dieser Striche ist die Zeile eines Abschiedsbriefes. Jede gesparte Kalorie ist ein Schritt in Richtung Tod. Jede Kleidergröße weniger ist ein bisschen näher am Skelett. Mit jedem abgegeben Kilogramm gibt man auch ein bisschen Leben ab. Ein Hilfeschrei muss nicht laut sein. Man kann auch in der Wüste erfrieren. Die Krankheit ist ein Meister des Versteckspiels. Sie versteckt sich hinter Vorhängen, hinter Kleidern, hintern übergroßen Pullis und hinter verschlossenen Badezimmertüren. Nur weil man sie nicht sehen kann, heisst das nicht dass sie nicht da ist. Wenn man die Notiz suchen würde, dann würde man sie auch finden. Man müsste doch einfach nur den Vorhang zurückziehen. Das Mädchen hat keine Worte und lässt stattdessen ihren Körper sprechen. Was der Mund nicht über die Lippen bringt, trägt die schrumpfende Taille schließlich nach außen. Der Mund bleibt aber zu. Und weil nichts hinein kommt, kommen auch keine Worte heraus.

Am Ende bleibt trotzdem nur eine Nachricht: Ein Abschiedsbrief muss nicht immer auch ein Brief sein.

 

 

 

 

 

In Luft aufgelöst

Archivierte Gedanken vom 22.03.2013

Ein Atemzug reicht aus um meinen Bauch einzuziehen. Viel einzuziehen gibt es nicht. Wenn ich einatme dann zieht sich die Bauchdecke ein wenig zusammen. Wenn ich ausatme scheint sie einfach dort zu bleiben.

Manchmal ziehe ich den Mund zusammen, so als wäre ich ein Fisch. Dabei merke ich, wie sich mein Magen nach innen stülpt. Gleichzeitig ziehe ich ein wenig die Schultern hoch. Mein Hals spannt und meine Schlüsselbeine drücken sich nach außen, gegen die Haut, als wollten sie hindurchdringen. Wie die Milchzähne die von den festen Zähnen einfach weggestoßen werden. Meine Schulterblätter begegnen sich und drücken gegen die Haut am Rücken. Wie Flügel zeichnen sie sich sichtbar ab. Meine Rippen drücken sich hervor, wie eine Raupe gefangen im Kokon, die bereit ist als Schmetterling hinauszufliegen. Alles drückt und zieht. Alles will weg. Meine Organe, meine Knochen, sogar meine Venen. Alle scheinen sie vor diesem Körper flüchten zu wollen. Als würden Sie ahnen, dass er nicht mehr lange als Nährboden dienen kann. Die Erde vertrocknet und die Blumen sind längst verwelkt. Es hat schon lange nicht mehr geregnet.

Dann lasse ich los. Lasse die Schultern sacken, nehme den Druck aus den Schlüsselbeinen, lasse die Rippen locker und atme aus.

Luft geht herein und Luft geht heraus. Luft kann mich flach machen, kann mich aufblähen, kann mich fliegen lassen, kann mich platzen lassen. Kalte Luft kann meine Haut lila färben, meine Finger erstarren lassen. Heiße Luft kann meine Haare wie Fäden wirbeln, kann meine Venen anschwellen lassen, kann den Schmerz betäuben.

Wenn Luft Kalorien hätte, würde ich aufhören zu atmen? Oder würde ich einfach die ganze Zeit hecheln? Wäre es nicht eigentlich egal, da sie sowieso wieder ausgeatmet wird?

Könnte auch ich meinen Aggregatzustand verändern? Mich in Luft auflösen? Einfach dahinwehen, schmelzen oder mich als winzige Staubkörner auf Möbel legen und dort für immer schlafen, bis ich irgendwann weggewischt werde?

 

 

Musiktipp: Hinfalln Aufstehn Weitertanzen von Maxine Kazis

Liebe Alle,

heute möchte ich euch gerne ein – wie ich finde- äußerst gelungenes Video und Lied von Maxine Kazis ans Herz legen. Sie litt selbst an einer Essstörung und verarbeitet diese nun uA in ihrem seit heute veröffentlichten Song  „Hinfalln Aufstehn Weitertanzen“.

Mit diesem musikalischen Tipp wünsche ich euch nun ein schönes Wochenende!

 

Abbauprodukt

Manchmal habe ich Angst, das Studium frisst mich auf. Die ganze Universität frisst mich auf, verschluckt mich. Und dabei bin ich wie eine gesättigte Fettsäure – Ich flutsche einfach so hindurch und werde zum Hüftpolster.

Vielleicht ist das ganze hier auch Jammern auf hohem Niveau. Schließlich habe ich das Privileg überhaupt studieren zu dürfen – und das sogar gebührenfrei. Vielleicht, wäre ich vor gut 150 Jahren geboren worden und hätte ich als Frau wirklich für meine Bildung kämpfen müssen, ja vielleicht wäre dieser Gedankengang dann angebracht.

Aber ich lebe im 21. Jahrhundert, in einem Land das so etwas wie ein Prostitutionsgesetz kennt, in dem Alice Schwarzer eine eigene Talkshow bekommt, in einem Land das ein Recht auf Bildung für jedermann und in diesem Kontext auch Frau als Menschenrecht führt.

Das ist sowas wie mein präventives schlechtes Gewissen für alles was folgt. Ich kann nichts dagegen tun, dass mich die Angst an meinen vollgekritzelten Holzstuhl fesselt.  Was wenn ich einfach durch ihn hindurchrutschen würde? Würde auch nur irgendjemand überhaupt Notiz davon nehmen? Vermutlich erst dann, nachdem ich die Regelstudienzeit überschritten habe und von Amts wegen exmatrikuliert wurde.

Ich bin Teil einer Generation, die darauf spezialisiert ist ihre ganze Existenz auf 140 Zeichen zu reduzieren. Ich bin unglaublich gut darin mich und alles was ich bin bis auf die Knochen abzunagen und zu entblößen. Ich bin ein Profi darin, alles überschüssige Fleisch und was da sonst noch so ist einfach abzureißen und direkt zum Kern zu kommen. Wenn meine Brüste nicht gleichgroß sind, dann radiere ich sie einfach weg. Ich bin ein Ökonom.

Versteht mich nicht falsch. Ich liebe Zahlen. Ich liebe die Akkuratesse, das Messbare und die Fähigkeit alles Immaterielle greifbar zu machen.  Aber ich habe das Gefühl es passiert genau das Gegenteil. Erst werde ich nummeriert und dann pauschalisiert. Ich bekomme ein Etikett das in eine Kategorie gesteckt wird. Und diese Kategorie wiederum steckt in einer großen Kartei fest. Und um mich zu finden reichen plötzlich nur noch meine Initialen aus. Und dann bin ich ein Produkt. Eine Kombination aus einer 7-stelligen Matrikelnummer und meinem Namen.

Bin ich also wirklich im Unrecht, wenn ich mich weigere einzusehen, dass meine interpersonellen Stärken und mein persönlicher Werdegang nicht genug Platz auf einer DINA4 Seite haben? Wie um alles in der Welt soll ich mich denn bitte entfalten lernen, wenn ich von allen Seiten eingedrückt werde? Das geht bestenfalls mit Backpapier.

Vielleicht war ich irgendwann einmal ein Schokocroissant. Ich war ein Blätterteiggebäck mit gutem und bösem Fett, mit Schokoladenfüllung und mit ziemlich viel Zucker. Aber ich war ein Ganzes. Ich hatte einen Wiederkennenungswert, eine Identität. Neben Donuts und Hefeschnecken erkannte man mich als Schokocroissant. Irgendwann dann kam die hungrige Universität und brach die knusprige Teigschale. Arbeitete sich zum Schokoladenkern vor – der Grund wieso man das Ding ja eigentlich isst. Und meine ganzen Einzelteile begannen sich schon auf dem Weg in den Verdauungstrakt zu spalten. Ich wurde zu ungesättigten und gesättigten Fettsäuren, zu Transfetten zu Cholesterin und zu Glukose. Ich wurde ausgepresst und gemolken. Im Magen traf ich zerkautes Brot und püriertes Obst. Ehe wir uns versahen schwappte eine Magensäurewelle über uns und wir wurden zu einem Einheitsbrei. Auf dem Weg durch den Dünndarm blieb der ein oder andere zurück. Im Enddarm angekommen hatten wir bereits selbst vergessen als wer oder was wir einst hinein gekommen waren. Und dann werde ich zum Hüftpolster. Ein neues Produkt.

Und dann werde ich vor die Herausforderung gestellt die Welt da draußen davon zu überzeugen, dass ich ein ganz einzigartiges Hüftpolster bin. Dass ich nicht wie die anderen Fettpölsterchen bin. Dass ich die Speiseröhre hinabgetänzelt bin und daraufhin die Tomaten abgehängt habe. Dass die Bösen ja eigentlich auch die Kohlenhydrate sind. Nicht umsonst nennt man mich auch „Hüftgold“. Und ja, dabei ist es ganz einfach zu vergessen, dass ich eigentlich ein Schokocroissant bin.

Wieso ist es also nicht verwunderlich, nein fast schon abwegig, zu glauben dass ein winziger „Über-Mich-Kasten“ eine ganze Person in sich aufnehmen kann? Welcher Rahmen würde es sich anmaßen ein Foto abzuschneiden? Und ist es Zufall dass sowohl die Wörter Kasten als auch Rahmen beide maskulin sind?

Habe ich nicht genug Zertifikate um mich als Person zu verifizieren? Wenn ich den Hörsaal verlasse und den Collegeblock wegpacke – bin ich dann in einer identitäslosen Sphäre? Wenn ich den vollgekritzelten Holzstuhl hochklappe und vorne der Beamer abgeschaltet wird – habe ich überhaupt noch eine Funktion? Ist das Wort Selbstwert nur ein Synonym für Bewertung?

Ich will kein Hüftpolster sein. Ich will nicht verheimlichen müssen, dass ich ein fettiges, zuckeriges Schokoladencroissant bin und dass ich eure Arterien verfetten könnte. Ich will dem Biogemüse auf Augenhöhe begegnen dürfen. Ich will mindestens 3 DINA4 Seiten. Ich will Comic Sans MS verwenden dürfen. Ich will Vorträge im Schlabberpulli halten.

Ich will für das anerkannt werden was ich bin und nicht für das was ich vorgebe zu sein.

Ausstellung „An apple a day?“ ab dem 14.03.2016 in Jena

Vor einiger Zeit habe ich auf meinem Blog auf dieses Fotoprojekt bereits aufmerksam gemacht. Nun ist es endlich soweit!

Ab heute ist die Ausstellung „An apple a day?“ von Melanie Kausch im Café Wagner Jena e.V. zu sehen.
Neben Fotos von Betroffenen, gibt es auch Interviews und deren persönliche Geschichten zu lesen.

Vorbeischauen lohnt sich also in jedem Fall!

Alice Ohne Wunderlands Foto.

Zeitreise

Imagine you could grow up all over again, and pinpoint the millisecond that you started counting calories like casualties of war, mourning each one like it had a family.Would you?

aus „empty plate“von Caitlyn Siehl

 

Eine berechtigte Frage und ich kann sie nicht beantworten.

Wenn ich die Chance hätte, alles ungeschehen zu machen. Wenn ich die Chance hätte, die Uhr um 10 Jahre zurückzudrehen. Wenn ich die Chance hätte, in mein Kinderzimmer zu schleichen und all die Kalorientabellen, die Frauenzeitschriften, die Küchenwaage und die Maßbänder einfach wegzuschmeißen. Würde ich?

Wenn ich die Chance gehabt hätte, mich davon abzuhalten, als ich mir das erste Mal auf der Schultoilette den Finger in den Hals gesteckt habe – würde ich sie ergreifen? Wenn ich die Chance hätte, die gefrorene Tiefkühlpizza wieder zurück in die Truhe zu legen, anstatt heulend an ihr zu lecken – würde ich? Wenn ich die Chance hätte, mich an all die Tage wieder zu erinnern, an denen ich wie in Trance in meinem Zimmer saß –würde ich?

Ein Teil in mir schreit entrüstet Ja. Der andere ist sich nicht ganz sicher wieso, doch er denkt das Gegenteil. Dieser Teil in mir fragt sich, was heute anders wäre, wenn ich nie eine Essstörung gehabt hätte.

Ich wollte immer alles und noch mehr. Ich wollte in jederlei Hinsicht immer nur glänzen. Wenn ich eine 1- schrieb, dann war ich enttäuscht dass es keine 1 war. Wenn ich eine 1 schrieb, dann war ich enttäuscht weil ich nicht die Einzige war. Und wenn ich die Einzige war, dann waren die Aufgaben zu leicht. Es gab nichts, das nicht hätte besser gemacht werden können. Zumindest nicht für mich. Das Dilemma an der Sache ist, dass die Leistung irgendwann zum Selbstverständnis wird. Nach der 20. Eins war die gefühlt nur noch eine Zwei wert.

Ich musste also weiterwachsen. Ich musste mich optimieren. Um die ganze Sache noch zu verkomplizieren, schaffte ich es nicht, meine Leistung selbst zu verifizieren. Ich brauchte die Bestätigung wie ein Motor sein Öl. Ich war abhängig vom Lob und Tadel der anderen. Nicht ich, sondern die anderen hatten die Macht mich zu starten oder zu bremsen. Mein Anspruch an mich stieg parallel mit jedem Misserfolg den ich in anderen Lebensbereichen erlebte. Und weil das Leben so unfair unberechenbar ist, blieben auch mir keine Misserfolge erspart.

Ich mag vielleicht ehrgeizig, fleißig und gewissenhaft gewesen sein. Leider war ich aber auch ziemlich uncool. Und im zarten Alter von 12 wiegt Letzteres leider entscheidend mehr.

Ich trug überweite Schlabberpullis und schwarze Bundfaltenhosen aus der C&A Damenabteilung und hatte irgendwann den brillanten Einfall mir selbst einen Pony zu schneiden. Ich war immer mindestens einen Kopf größer als alle anderen, weswegen ich auf jedem Klassenfoto so unfassbar unpassend herausragte. Ich besuchte die Mathe-AG und weigerte mich am Sportunterricht teilzunehmen. Im Theaterstück der 6. Klasse war ich „das dicke Ende“ im Wortspiel „das dicke Ende kommt zum Schluss.“ Ich war die geborene Zielscheibe.

Egal, wie viele Einsen ich noch hätte schreiben können. Egal, wie begeistert meine Lehrer von mir hätten sein können. Egal, wie viel Geld ich für mein Zeugnis hätte zugesteckt bekommen können. Ich war ein Freak.

Ich war ein Rollmops, ein Happy Hippo, ein Streber, Germanys Next Topmoppel, ein Presssack, ein Breitmaulfrosch, eine Hakennase, eine Gesichtsbaracke, ein Opfer und alles, was 13-jährigen Kindern sonst noch so einfällt. Und ich war ausgebremst, hilflos und machtlos.

Bis auf den Tag, an dem ich etwas gefunden hatte, mit dem ich sowohl Macht über mich als auch über die anderen erlangen konnte.

Ich drehe also die Zeit zurück, zu diesem Moment und ich frage mich noch einmal. Würde ich?

Vielleicht habe ich diese Zeit gebraucht. Vielleicht hat jedes weggehungerte Gramm eine Funktion in meinem Leben übernommen.

Ich habe Gewicht verloren und Macht gewonnen. Ich habe Gewicht verloren und Kontrolle bekommen. Ich habe Gewicht verloren um mich aus der Ohnmacht herauszuziehen. Ich habe Gewicht verloren und gelernt meine Erfolge zu spüren. Ich habe Gewicht verloren um mich zu entlasten.

Ich habe die Lasten des Rollmopses abgeworfen, die Schuld der Misserfolge weggehungert, habe die Wut und Verzweiflung ausgekotzt und habe nicht aufgehört, bis alles weg war. Und was übrig blieb, war ein Mensch, der nicht lebensfähig war. Übrig blieb nur noch ein kleiner Rest, den ich schützen konnte. Ein kleiner Rest, der so spitz und hart war, dass man ihn nicht zerbrechen konnte. Ein Knochengerüst, dem jegliche Stabilität im Leben fehlte.

Und als ich dann nach draußen gegangen bin, als Knochengerüst, da war plötzlich sichtbar, dass man mich nicht mehr umwerfen darf. Es war plötzlich klar, dass man mich stützen muss.

Also habe ich die Chance ergriffen um mir Neues anzuessen. Statt an Gewicht habe ich an Selbstvertrauen zugenommen. Ich habe Unmengen an Liebe in mich hineingeschaufelt. Ich habe mich an Gelassenheit und Freude sattgegessen. Ich habe die Lücken mit Vertrauen, Stärke und Selbstbewusstsein gefüllt.

Und deshalb würde ich es nicht. Ich würde alles so lassen wie es ist. Vielleicht war ein langer und steiniger Weg. Vielleicht war die eine oder andere Kreuzung falsch und vielleicht hätte es noch andere Wege gegeben. Letztendlich habe ich aber wieder zurück auf die Hauptstraße gefunden und das ist für mich alles was zählt.

Ich bin auf dem Weg auf dem ich sein möchte und wie ich diesen gefunden habe, spielt momentan keine Rolle.

Die Kehrseite der Medaille

 

Ich kenne zwei Arten von Hunger.

Den, den man gegen Mittag verspürt, wenn man keine Zeit zum Frühstücken hatte. Oder den, den man spürt wenn man abends nach der Arbeit spät heim kommt. Jener der sich mit Magenknurren ankündigt. Der deinen Bauch grummeln lässt und der komische Glucksgeräusche macht. Das ist die Art von Hunger, die man füttern kann.

Doch ich kenne noch eine weitere Art von Hunger. Ich verspüre ihn meistens gar nicht. Erst wenn ich etwas gegessen habe, kann ich ihn wieder spüren. Dieser Hunger ist leise. Kein Grummeln oder Glucksen kündigt ihn an. Dieser Hunger ist anders. Er zieht deine Gedanken auseinander wie Kaugummi. Er frisst sich in jede Synapse. Er lässt dich gieren und lechzen, nach Dingen die du niemals haben darfst. Der Hunger treibt dich dazu, Pappe mit Süßstoff zu schlucken. Der Hunger lässt dich so viele Schlaftabletten schlucken, nur dass du ihn nicht mehr spüren musst. Der Hunger lässt dich an Käse lecken, um dich zugleich dafür zu bestrafen. Der Hunger verzerrt deine Sicht auf dein Spiegelbild. Und du kannst ihn nur aushalten, kannst nichts gegen ihn tun. Also versuchst du dir Mittel und Wege auszudenken, die ihn irgendwie erträglicher machen. Du übertönst ihn mit Schnitten in deine Arme. Du reißt dir die Haare aus, um den Hunger für ein paar Sekunden zu vergessen. Du rennst stundenlang durch die Straßen, bei Regen und Schnee, nur um nicht an ihn zu denken. Du versuchst dich an Kochbüchern und Supermarktregalen satt zu sehen.

Ich kenne auch zwei Arten von Müdigkeit.

Die, die man spürt wenn man lange wach gewesen ist. Oder die, die man spürt, wenn man aufsteht, während es draußen noch dunkel ist. Das ist die, die man meist mit einem Kaffee wegspülen kann.

Und ich kenne noch eine weitere. Diese Müdigkeit lässt sich nicht mit Schlaf beheben. Sie ist permanent. Auch wenn du stundenlang in deinem Bett liegst, spürst du deine schwachen, müden Beine nur mit Mühe. Wenn man auf diese Art müde ist, dann heißt das nicht dass man schlafen will. Es heißt, dass man am liebsten gar nichts mehr tun will. Will einfach nur starr sein, nicht mal mehr atmen müssen und von der Luft getragen werden. Keine Last der Beine mehr spüren. Keine Energie für Gedanken aufwenden. Man will wie ein Vakuum sein. Jedes Mal wenn du blinzelst, graut es dir davor die Kraft für ein weiteres Mal aufzubringen. Die Müdigkeit lähmt dich. Sprechen ist anstrengend, zuhören noch mehr, denken sowieso. Atmen ist kräfteraubend, stehen, sitzen, liegen – alles saugt dir die Energie aus dem Körper. Du kannst dich gar nicht entscheiden was ermüdender ist: Der Gedanke daran, dass morgen alles von vorne losgeht? Oder der Gedanke, den du denken musst, selbst. Ist man einmal so müde, dann kann gar nicht mehr von alleine aufwachen.

Daneben kenne ich auch zwei Arten von Kälte.

Die, die man spürt wenn man bei Schnee ohne Handschuhe Fahrrad fährt. Die, die man spürt, während sich das Duschwasser langsam erhitzt. Die Art von Kälte, die einen zittern und klappern lässt. Die, die die Finger steif und steinern macht. Die Art von Kälte, die man mit heißem Tee und Wollpullovern besänftigen kann.

Die andere Kälte ist unerbittlich. Sie lässt sich nicht mit heißer Fönluft, mit warmem Wasser oder mit Daunenjacken zufriedenstellen. Diese Kälte ist nicht außen, sondern innen. In dir drin. Du strahlst sie aus und atmest sie gleichzeitig ein. Sie zieht sich wie dünne Fäden bis ins letzte Fingerglied. Sie betäubt deine Zehen und deine Nase. Sie macht jede Bewegung zur Qual. Sie greift dir unter die Haut und bildet eine eigene Schicht. Sie entzieht die jede Kraft und macht dich zur Eisstatue. Sie lässt sich nicht wegwaschen, nicht wegrubbeln, nicht zudecken oder einmanteln. Sie findet überall Schlupflöcher und kleine Nischen, in denen sie ihre frostig kalten Eisfragmente hineinbettet und verankert. Nichts funktioniert. Nicht einmal deine kochend heiße Wärmflasche, die dir die Haut verbrennt. Du spürst sie gar nicht. Die fünf Pullover unter der Winterjacke halten dem Frühlingswetter kaum stand. Mit jeder Bewegung riskierst du, neue Lücken für die Eisteilchen offenzulegen. Also versuchst du still zu bleiben und auszuharren, irgendwie.

 

Die vorletzte Seite

Ich sitze im Bus und blättere die Seiten um. Seite für Seite werfe ich das dicke Papier nach links und lasse den Blick dabei schnell über die winzigen schwarzen Zeichen schweifen. Fast schon automatisch schmeißen meine kalten Finger die aktuelle Seite mit letzter Kraft auf die Vorherige und mit jedem „Klatsch“ wächst mein Hass auf das Geschriebene. Der Bus rast holprig über die Landstraße und die anderen Menschen sprechen laut und wirr. Doch um mich herum ist alles dumpf. Alles was ich höre ist der markerschütternde Aufprall von Papier auf Papier. Ohrenbetäubend und eindringlich, erschütternd und schneidend. In meinen Ohren pocht es und der Druck hinter meinem Auge beginnt zu schmerzen. Gnadenlos steril in schwarz steht dort „16“ , ganz unten, auf der letzten Seite. Mein Herz pocht und meine Hände zittern. Ich beginne erneut die Seiten zu schleudern, „klatsch, klatsch, klatsch“ schneiden sie krude die stickige Luft. Und wieder: „16“. Die letzte Seite. Gekennzeichnet mit 16. Seite Nummer 16.

Das kann nicht sein, denke ich, nein, ich bin wahrscheinlich nur zu müde. Meine Augen sind getrübt, zu matt und schwach, meine Sicht ist verklärt. Nein, schlichte ich, ich muss mich versehen haben. Das dort kann niemals so da stehen. Unmöglich. Ich schließe die Augen und hole tief Luft. 21,22. Augen auf. Und während das Bild wie in Zeitlupe, wie bei einem Polaroid-Foto, langsam heller und deutlicher wird senke ich den Blick nach unten. „Seite 16“. Ich werfe die Seiten erneut übereinander und dieses Mal schmettere ich sie und schieße sie förmlich. Ich katapultiere das weiße Papier wie Kugeln aus Pistolen und versuche sie dabei nicht zu zerreißen. Mein Herz pocht immer wilder und meine Hände drohen zu explodieren. Mein Blut fließt wie heiße Lava durch meine bebenden Hände und mein Atem schnappt, wie ein Tier das zu ertrinken droht. Mein Magen zieht sich zusammen wie ein Schlauch und meine Beine werden taub und lahm. Aus der holprigen Straße wird plötzlich ein Sog, wie ein Tornado und um mich herum hallt es bedrohlich „16,16,16“. Der Himmel über mir bricht ein und aus allen Ecken wispert es nur noch „16,16,16“. Meine Beine versagen und knicken ein und meine weit aufgerissen Augen blicken direkt in eine riesige, große, fette, schleimige 16.

Ich zittere und weine und versuche die Seiten zu zerreißen. Ich werfe mit dem Papier um mich und schreie in mein Telefon. Ich steige aus und falle auf den Boden. Ich schluchze und lalle wie ein betrunkenes Baby, ich würge und gluckse und verschlucke mich an meinem eigenen Schleim. Ich liege am Boden der Busstation, kreischend und völlig außer mir, versuche die Seiten zu zerreißen und dabei nicht an meinen Tränen zu ersticken. 15 Minuten später kommt meine Mutter. 30 Minuten später liege ich sediert im Bett.

Zwei Tage später waren die Semesterferien vorbei und die Uni fing wieder an. Ich kam aber nicht mehr. Es ging nicht. Dieses beklemmende Gefühl, wenn ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite schon den Geruch der Bücher in der Nase hatte. Die Angst die mich mit sich riss, wenn ich die großen Tore des Hauptgebäudes aufgehen sah. Die schwammigen, verzerrten Erinnerungen an die unzähligen Stunden in den weißen Räumen und die Mauer aus Büchern um mich herum. Das monotone Geräusch der Tasten die bei jedem Stoß ein stumpfes Klicken von sich gaben, das mich nachts nicht schlafen ließ. Die Kälte der Wände auf der Damentoilette im 1. Stock, auf die ich mich flüchtete um Platz zu schaffen. All die Wörter und Gedanken die ich in Form von Unverdautem aus mir herauspresste um mich erneut mit Leere zu füllen. Den Hass und die Wut und die Angst die ich einfach nicht loswerden konnte. Ich habe auf die Tasten gehämmert, habe den Stift gegen das Papier gedrückt, habe die Bücher platt gewälzt und habe den Inhalt inhaliert. Ich habe mich ausgebreitet und vollgesogen, habe alles ausgekotzt um Platz zu schaffen, habe an den Wörter geleckt und versucht sie mir ins Hirn zu spritzen. Und das alles erfolglos.

Am Ende lag ich röchelnd an einer Bushaltestelle, verschmiert und verschleimt, zerfetze meine Semesterarbeit und brüllte unverständliche Dinge in mein Telefon. Und das alles nur wegen einer Seite. Eine beschissene Seite zu viel. 15 Seiten sollten das Maximum sein. Mehr nicht. Und ich habe versagt. Ich hatte nicht 15, sondern 16. Alles war es umsonst gewesen. Ich hatte mich selbst aufgegeben für nichts.

Und nun, da ich es schwarz auf weiß, in Arial Black Größe 12 hatte, blieb mir nichts anderes mehr übrig als mir die Existenzberechtigung endgültig zu versagen. Ich hatte in allem versagt, was mich berechtigte am Leben zu bleiben. Also nahm ich die weißen Seiten und zerfetzte sie in tausend Teile. Und dann nahm ich eine frische weiße Seite. Eine die leer war und rein und unverbraucht. Eine mit der man ein neues Kapitel beginnt.

 

Anm.: Das ist ein alter Text, den ich neulich wieder entdeckt habe. In den Höchstphasen der Depression, die sich im beschrieben Nervenzusammenbruch und Suizidplänen gipfelte.

Alle Jahre wieder!

Ich habe nie verstanden, was genau die ganzen Menschen da draußen an Weihnachten so euphorisch werden lässt. Ich habe nie kapiert, was genau den sogenannten „Zauber“ eines Weihnachtsmarktes ausmacht. Ich habe es nie begriffen, warum am Ende des Jahres die Menschen alle sentimental und besinnlich werden und plötzlich für alles übergeordnete Werte gelten lassen.

Für mich war Weihnachten eine Aneinanderreihung von Erklärungsnöten. Viel zu viele Situationen in denen man gemeinschaftlichem Essen entkommen musste. Viel zu dicht aneinandergereiht noch dazu. Weihnachtsmärkte waren für mich eine Sammelstelle für überflüssige Kalorien. 600 Kalorien hier, 35 Gramm Fett da – und dazu eine bunte Lichterkette.

Als der als Weihnachtsmann verkleidete Hausmeister vor ein paar Jahren auf Station Nummer 5 kam um Weihnachtscharme zu versprühen, sank die Raumtemperatur binnen Sekunden um gefühlte 10 Grad. In seinem Sack Unmengen an Schokoladen-Nikoläusen. Bittende Augen und zitternde Mundwinkel brachten die Stationsschwester schließlich dazu den Weihnachtsmann kurz unter vier Augen zur Seite zu bewegen. Nach Minuten des Schreckens holte dieser dann aus einem zweiten Sack schließlich für jede von uns einen Apfel heraus. Vielleicht war dies das einzige Mal an dem ich tatsächlich so etwas wie weihnachtliche Dankbarkeit verspürt habe.

Weihnachtszeit bedeutete für mich lila Hände und steifgefrorene Füße. Weihnachtszeit bedeutete für mich nächtelang Unmengen an Plätzchen zu backen um dann keins davon auch nur zu probieren. Weihnachtszeit bedeutete für mich, dass ich tatsächlich ein weiteres Jahr überstanden habe – manchmal war ich darüber froh, manchmal nicht.

Weihnachtszeit bedeutete Stress. Die musternden Blicke der Verwandten die man nur einmal im Jahr sieht. Die unbeholfenen Witze deines Onkels der deine Eltern fragt, ob das Kind daheim nichts zu essen bekomme. Die klagenden Blicke deiner Oma, wenn du, nachdem du letztes Jahr schon Veganer geworden bist, mittlerweile Laktose-, Fructose und Gluten nicht mehr verträgst und deswegen nichts vom Kartoffelpüree essen kannst. Ja, Weihnachten war anstrengend.

Deswegen versuche ich seit letztem Jahr mich an die Jahre davor zu erinnern. Ich stelle mir vor ich wäre 5 und es gäbe tatsächlich einen Weihnachtsmann. Ich stelle mir vor, auf meinem Wunschzettel könnte alles stehen. Kein Wunsch zu groß, keiner zu absurd, keiner unerfüllbar. Ich versuche mich an das Gefühl zu erinnern, wie es war jeden Tag ein Türchen im Adventskalender zu öffnen. Ich stelle mir vor wie ich mich jeden Tag darauf gefreut habe die Lichterkette anzustellen. Ich erinnere mich daran wie unser ganzes Haus nach Plätzchen geduftet hat. Ich erinnere mich daran, wie wir alle zusammen den Weihnachtsbaum geschmückt haben. Ich erinnere mich daran, wie ich Weihnachtslieder mit der Blockflöte zum Besten gegeben habe. Ich erinnere mich daran, wie ich die beschlagene Scheibe im Auto mit dem Finger bemalen konnte.

Und ja – heute weiß ich, dass es keinen Weihnachtsmann gibt und dass meine Wunschzettel nie nach Himmelstadt gesendet wurden. Ich weiß, dass nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen. Ich weiß, dass die Wünsche die man nicht im Laden kaufen kann, die sind die man sich am meisten wünscht. Ich weiß, dass mein Adventskalender morgen wieder gefüllt ist, auch wenn ich meinen Teller heute nicht leer esse. Ich weiß wie viele Kalorien jedes einzelne Plätzchen hat. Ich weiß, dass ich dieses Jahr zu spät zum Dekorieren nach Hause kommen werde. Ich weiß dass meine Scheibenbilder wieder verblassen und von alleine verschwinden werden.

Aber trotzdem weiß ich auch, dass Weihnachten Freude bedeuten kann. Dass es Spaß machen kann, Kalorien auf einem Weihnachtsmarkt zu konsumieren. Weil gebrannte Mandeln lecker sind. Und weil Glühwein Spaß macht. Und weil ich zusammen mit Freunden lache. Ich weiß, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, mit der Familie an Weihnachten zusammen zu sitzen und zu essen. Ich weiß jetzt, wie viel entspannter es ist, den Teller leer zu essen anstatt die Erbsen in die Hosentasche zu stecken. Ich weiß es zu schätzen, dass ich die Möglichkeit habe ein weiteres Jahr zu erleben.

Das ist Weihnachten für mich – die Belohnung dafür, ein Jahr gelebt zu haben und ein weiteres leben zu dürfen.

Besuchsfreie Zeit

Als wir mit der Schule fertig waren, sind wir alle raus in die große weite Welt. Haben uns alle an den Unis beworben. Wir haben neue Freunde gefunden. Wir haben neue Identitäten bekommen. Wir durften alle nochmal neustarten.

Hatte jemand Geburtstag haben wir uns aber alle wieder versammelt. Haben über alte Zeiten geredet, die noch keine 12 Monate zurücklagen. Haben von unseren beruflichen Perspektiven geschwärmt, als hätte die Welt nur auf uns gewartet.

Manche haben die neuen Freunde mitgebracht. Manche waren der neue Freund selbst.

Dann wurden es immer weniger Geburtstage. Irgendwann war es nur noch ein „Wie geht’s Dir so?“ auf WhatsApp. Ein „Gefällt Mir“ beim neuen Profilbild auf Facebook. Der flüchtige Hinweis, dass man am Leben der anderen noch teilnimmt. Eher passiv jetzt. Ziemlich viel zu tun mit dem Studium. Und auch die neuen Freunde brauchen jetzt mehr Zeit.

Alle sind sie mit der Zeit gegangen. Alle haben sie sich an ihr neues Leben angepasst. Nur ich tappte auf der Stelle. Machte einfach da weiter wo ich nie wirklich aufgehört hatte.

Als ich im November 2013 ein neues Profilbild einstelle sind die Reaktionen eher zurückhaltend. Auch nach 72 Stunden unverändert: „2 Personen gefällt das“ Eine davon ist meine Mutter.

Dann irgendwann ploppt ein Nachrichtenfenster auf dem Bildschirm auf: „ Hey! Wie geht’s Dir so? Hab‘ gehört du hast ein Urlaubssemester genommen?“

Und da war er. Der Beweis dass die Freundschaften an denen ich so krampfhaft festgehalten hatte nicht mehr existierten. Ich kenne diese Art Gespräch. Subtil nach brisanten Informationen haschen, unter dem Deckmantel man wolle sich mal wieder so melden. Einfach so, interessehalber.

Aus Teilnahme an meinem Leben ist jetzt also Neugierde und Sensationsgier geworden. Hatte man letztes Jahr noch darüber gesprochen dass X jetzt nichtmehr mit Y zusammen ist und sie ihren Status immer noch nicht geändert hat, bin es jetzt wohl ich worüber die anderen tratschen, wenn sie über „die aus der Stufe“ sprechen.

„Nicht so gut. Bin momentan wieder in der Klinik. Und es ist schon das zweite Urlaubssemester ehrlichgesagt. Und wie geht es Dir so?“  Ich habe keine Lust zu spielen. Ja, ich studiere momentan nicht. Ich habe schon das zweite Semester ausgesetzt. Ja, mir geht es nicht wirklich gut. Ich sitze seit Monaten in einer Klinik fest. Ich bin traurig und einsam und müde. Und ich habe keine Ahnung wie ich mein Leben in den Griff bekommen soll. Ich habe keine Lust mich mit Zivilrecht auseinanderzusetzen. Ich will über Magerquark nachdenken. Ich will Kalorienzählen. Und vor allem will ich so verdammt verhungert sein, dass es keiner mehr wagt mich auch nur ansatzweise mit diesem vorwurfsvollen Unterton anzusprechen. Ja, ich hinke hinterher. Ja, ihr macht eure Karriere, während ich hier festsitze. Ja ich habe versagt. Ja, Ja, Ja. Ich biete so wunderbaren Gesprächsstoff.

„Oh, das tut mir leid. Hab mir das ja schon gedacht, als ich dein neues Profilbild gesehen hab. Da siehst du wirklich sehr schlecht aus. Ich wünsche dir gute Besserung. Bist du in der Uniklinik?“

Ja genau. Bin da wahrscheinlich noch bis Februar oder so.“  Soll ich? Ich überlege einen Moment. „Du bist ja ganz in der Nähe dann, oder? Ich will nicht aufdringlich oder sein, aber wenn du magst kannst du ja gerne mal vorbeikommen. Freue mich immer über Besuch. Kann ganz schön öde hier werden ;)“

Einundzwanig. Zweiundzwanzig. Sie schreibt etwas…

„Oh ja natürlich mache ich das. Möchte dich unbedingt mal wieder sehen. Übernächste Woche bin ich mit den Klausuren durch. Da habe ich viel Zeit. Gebe dir dann nochmal Bescheid wann genau. Bis dahin!“

Zwei Wochen und ich habe noch nichts von ihr gehört. Auch nach drei Wochen postet sie munter, dass sie mit ihren „Lieblingen“ in dieser „süßen Bar am Marktplatz“ war und das sie dort „sooooo viel Spaß hatten <3“. Aber von Besuch keine Spur. Nach vier Wochen schicke ich eine kleine Erinnerungsnotiz. Unter ein Foto von ihren selbstgebackenen „total missglückten“ Weihnachtsplätzchen schreibe ich ein provokantes: Lecker sehen sie trotzdem aus! 3 Sekunden später gefällt ihr mein Kommentar. Aber zu Besuch kommt sie trotzdem nicht. Auch nicht im Januar und auch nicht im Februar. Sie hat mich nie besucht. Kein einziges Mal.

Keiner hat mich besucht. Keiner der Menschen, die so rege an meinem Leben interessiert waren. Keiner derer, die mir jedes schmutzige Detail über meinen Nervenzusammenbruch aus der Nase gezogen haben. Keiner derer, die mir in regelmäßigen Abständen irgendwelche bedeutungsschwangeren Motivationssprüchlein auf WhatsApp gesendet hatten. Keiner war da. Neun Monate war ich in einem Krankenhaus, das die meisten nur lächerliche 10 Minuten mit dem Bus gekostet hätte. Außer meinen Eltern war nie jemand da. Nicht ein einziges Mal. Neun Monate, fast 40 Wochen. 274 Tage und kein einziger davon war der richtige für einen Besuch.

Fast zwei Jahre später gefallen ihr immer noch meine Urlaubsfotos. Hin- und wieder ein kleines „Hallo“ aufs Handy. Geburtstagswünsche und höfliche Floskeln bei Gelegenheit.

Vor ein paar Monaten schrieb sie, sei sie mal für ein Wochenende in München. Eine Messe besuchen. Weil sie ja jetzt arbeitet und groß Karriere macht und die so gut in ihr Profil passt. Hatte ich nicht mal erwähnt, dass ich gar nicht so weit von der Innenstadt entfernt wohne?

„Hast du ein Glück mit dem Wetter. Soll richtig warm an den Tagen werden. Fast 28 Grad!“ schrieb ich ihr darauf zurück.

Als sie dann München war hat sie mich nicht besucht … und das war gut so.

Zero Tolerance

Eines Nachts hatte ich schreckliche Magenschmerzen. Hunger – und Muskelkrämpfe lähmten mich. Alpträume von Pizza, von Eiscreme und von Schokolade suchten mich heim. Da plätscherte ganz plötzlich eine salzige, dicke Träne mein Gesicht herunter. Schnell und ohne darüber nachzudenken schnappte ich nach ihr und verschluckte sie hungrig. Doch während der salzige Tropfen langsam meine vertrocknete Kehle herunter wanderte, blieb mein Herz regelrecht stehen. Noch bevor die Träne meinen Magen erreicht hatte, lag ich bereits in meinem Schlafanzug auf dem kalten Fußboden und machte wie wild geworden Sit-Ups und Liegestützen. Wie viele Kalorien so eine Träne wohl hat?

Am Morgen dann, bevor ich das heilige Ritual begann, traf ich zu allererst die nötigen Vorkehrungen.In Andacht und fast schon zeremoniell zog ich als erstes die Hose, dann das Shirt, dann die Socken und daraufhin auch die Unterwäsche aus. Danach das Haargummi. Dann schnitt ich, falls möglich, Fuß- und Fingernägel und schnäuzte mich so fest dass mir fast schwarz vor Augen wurde. Ich pustete fünf Mal ganz fest gegen den Spiegel, sodass er beschlug um die überflüssige Atemluft nach draußen zu befördern. Dann sammelte ich meinen Speichel und spuckte so oft es ging in das leere Waschbecken –so lang bis meine Zunge rau und mein Rachen trocken und heißer war. Erst dann konnte ich mir sicher sein, dass kein falsches Gramm mehr an mir klebte. Erst dann konnte ich vorsichtig auf die kalte Waage steigen.

Mein Leben basierte auf einer „zero tolerance policy.“ Unerbittlich und gnadenlos, wurden keine Kilokalorie und kein Milligramm zu viel geduldet. Keine Toleranz – kein Spielraum.In meinem Rechtssystem gab es keine Bagatelldelikte, sondern ausschließlich Kapitalverbrechen.

Für meine Taten gab es nur die Höchststrafe. Ich hielt nichts von Resozialisierung oder Prävention. Ich war schon längst isoliert von der Gesellschaft und moralisch abgestumpft. Und ja, auch die Todesstrafe habe ich befürwortet.

Die Magersucht ist kompromisslos. Die Magersucht gibt sich nicht mit „nur ein bisschen“ zufrieden.Die Magersucht will alles und noch mehr. Denn so enthaltsam und bedürfnislos die Magersucht in puncto Nahrungsaufnahme sein mag, umso gieriger ist sie wenn es um Macht und um Kontrolle geht. Sie giert nach Regeln, Gesetzen und Dogmen. Sie lechzt nach Riten und nach Zwängen. Die Magersucht ist der strengste Richter im Saal. Jede Verhandlung mit ihr ist vergebens. Die Magersucht verhandelt nicht. Und auch Toleranz kennt die Magersucht nicht. Nicht beim Essen. Nicht bei Zahlen. Nicht bei Zielen.

Als ich also eines Nachts versehentlich eine dicke, salzige Träne verschluckte, ließ sie keine Gnade walten. Sie ließ mich Sit-Ups machen und Liegestützen – die ganze Nacht. Seitdem habe ich nie wieder auch nur daran gedacht eine Träne zu verschlucken.

Fremdkörper

Früher, so mit 11,12 waren meine Kinderzimmerwände sonnengelb. Irgendwann dann wollte ich eine Veränderung, wollte etwas Neues. Da haben wir sie neu gestrichen – Hellrosa und Babyblau.
Und irgendwann unmittelbar danach, an irgendeinem Punkt in meinem Leben habe ich die Kontrolle über diese Veränderungen verloren. Über die Veränderung in mir und über die meines Körpers, meiner Gedanken und die meines Handelns. Ironischerweise suggerierte mir dieser Kontrollverlust ich hätte zum ersten Mal alles im Griff.
Ich war im Sog eines abstrusen Gedankenkonstrukts das nicht meines war. Oder doch? War das wirklich noch ich? Oder war da jemand der eines Nachts ins Zimmer geschlichen kam, sich durch meine Nasenlöcher schlängelte und sich durch meine Synapsen direkt in mein Großhirn räkelte, sich dort niederließ und meine Gedanken steuerte? Ein Parasit. Ein Eindringling. Ein Fremdkörper.
Ich war plötzlich ein Fremdkörper und auf einmal war alles verkehrt. Nein hieß auf einmal Ja, Hier wurde zu Dort, Kurz wurde Lang, Groß zu Klein, Hell zu Dunkel, Weiß zu Schwarz und alles war neu zu interpretieren. Aus der Veränderung wurde eine 180-Grad Drehung, mit Salto und 3-fachem Flick-Flack, sodass ich hinterher nur noch Sternchen sah und keine Ahnung mehr hatte, wo gerade noch vorne war.

Und dann war da auch noch diese Stimme. Eine leise, aber deutlich hörbare Stimme. Die Fremdkörper-Stimme. Sie machte die Veränderung erst möglich. Und sie war es, die von nun an meinen Wortschatz neu definierte.

Heute weiß ich, dass diese Stimme die der Essstörung ist und trotzdem höre ich sie regelmäßig immer noch. Und hier kollidiert die Wirklichkeit mit meiner eigenen Absurdität. Ich höre nicht das, was ihr zu mir sagt. Ich höre etwas anderes. Ich höre das was ihr sagt gefiltert. Erst nachdem eure Worte unzählige Gehirnwindungen durchlaufen haben, einige Kanäle passiert und gedockt haben und Halt beim Limbischen System gemacht haben, wird der wahre Sinn eurer Aussage herausgepresst wie Fruchtfleisch aus überreifen Orangen. Und nicht immer bleibt genug übrig um Saft daraus zu machen.

„Du siehst besser/frischer/gesünder aus“

Gesund also. Gesund, proper, wohlgenährt, füllig und …naja fett eben. Und dieses Magersucht-Dings scheinst du auch hinter Dir gelassen zu haben. Und überhaupt, haben sich mit dieser Phrase wie durch Zauberhand alle Probleme in Luft aufgelöst, denn du bist jetzt stabil und robust und musst ab sofort wieder 150 % leistungsfähig sein.

„Dieses (Essen) ist so ungesund/ fettig/ Zucker pur/ nicht diät-tauglich“

Das ist kein allgemeingültiges Statement. Ihr redet jetzt nämlich genau mit mir. Ja ganz recht – selbst wenn ich oben genanntes momentan überhaupt nicht Reichweite habe, so betrifft es doch einzig und allein mich und ist als Warnung und präventive Mahnung zu verstehen. Und außerdem wisst ihr natürlich auch, dass ich sowas bestimmt manchmal esse, oder gerne essen würde und deswegen bin ich gierig und undiszipliniert und auf frischer Tat ertappt. Schamgefühle sind jetzt angebracht.

„Du isst schon wieder/ Das ist aber eine große Portion“

Du Gierschlund – du bist doch schon fett. Die Zeiten, in denen es okay war so viel zu essen sind definitiv vorbei. Also leg‘ die Gabel weg und tu Dir einen Gefallen.

„Ich bin so voll – das war ziemlich sättigend“

Auch diese Aussage ist nicht als allgemein und generell zu bewerten. Auch hier ist ganz klar, dass ihr direkt mit mir sprecht. Denn die Tatsache, dass ich gerade eine ähnlich große oder gar gleiche Mahlzeit gegessen habe und nicht so voll bin, macht mich zu einem unglaublich gierigen Fressmonster ohne Moral und Disziplin.

 

„Meine beste Freundin/Tante/Cousine/Kollegin hatte auch eine Essstörung und die sah irgendwann echt grauenvoll aus“

Auch wenn ihr keinen direkten Vergleich anstellt – ich höre ihn trotzdem. Und natürlich ist Person X die mit dem schlimmeren Schicksal und ich hingegen ein Simulant.

„Ach, das ist okay. Ich lasse auch oft Mahlzeiten aus. Iss einfach wenn du hungrig bist.“

Pf. Essstörung? Dass ich nicht lache. Wie kommst du denn darauf, du könntest zu wenig essen? Niemand scheint das ebenfalls so zu sehen, also hör auf ein Problem zu beschwören, wo es gar keines gibt.

„Bleib einfach so – das sieht doch jetzt gut aus.“

BMI 17 sieht also gut aus? Klasse – dann darf ich ja offiziell unter der Anorexiegrenze bleiben und so weiter machen. Sieht ja schließlich gut aus ergo alles ist bestens. Scheint nicht wirklich bedenklich zu sein, wenn ich sogar Lob dafür bekomme.

Unendlich könnte ich diese Zwiesprache mit mir selbst weiterführen – die Frage ist wohin? Kommt irgendwann ein Straßenschild mit der Aufschrift „Realität“ ?

Wird der Weg plötzlich asphaltiert, die Bäume abgeholzt und die Landschaft eben, sodass ich kilometerweit geradeaus sehen kann und nie wieder in das Dilemma einer Wegekreuzung komme?

Werde ich irgendwann vielleicht sogar mit dem Taxi abgeholt und einfach nur gefahren, ohne selbst den Weg zu kennen?

Oder werde ich weiterhin Dialoge mit einer Fremdkörper-Stimme führen, wenn ich mich nicht entscheiden kann, ob ich lieber schwarz oder weiß, lang oder kurz, klein oder groß oder doch etwas ganz anderes möchte.

Keine Ahnung – aber bis es soweit ist, bleiben meine Wände einfach weiß.

Waagemutig

Stellt mich auf eine Waage. Stellt meine Gefühle auf die Eine und meine Gedanken auf die Andere Seite und ihr werdet sehen es balanciert sich aus. Denn entweder sind beide leer, oder beide voll mit Nichts. Und ja, das ist ein Unterschied.

Denn in meiner Welt ist alles messbar, alles zählbar, alles kalkulierbar. Alles hat einen Wert – schwarz auf weiß, alles chiffriert und skaliert.

Mein Selbstwert ist auf die Kilokalorie genau bemessen, die Parameter habe ich selbst bestimmt. Mein Glück ist in Intervalle eingeteilt und Freude empfinde ich in Prozent. Zufriedenheit ist geometrisch und Vertrauen bedarf Symmetrie. Rationalität ist die notwendige Bedingung jeder Entscheidung und mein Bestreben ist das Erreichen eines globalen Minimums – in jederlei Hinsicht. Im Zweifelsfall bin ich lieber linear, denn 3-D ist mir zu platzeinnehmend. Mein Grenzwert ist gemessen in Leidensdruck und meistens bleibt er asymptotsich – dehnbar bis ins Unendliche, niemals am Ziel, denn ein kleiner Spielraum bleibt immer.

Und genau deshalb macht es sehr wohl einen Unterschied ob der Apfel nun 130 oder 140 Gramm wiegt und eben genau deshalb wiege ich ihn überhaupt.

Das wunderbare an der Akkuratesse ist nämlich die vermeintliche Unfehlbarkeit. Mit dem Abwägen jeglicher Eventualitäten halte ich das Restrisiko gering.

Und genau wie ich meine Welt bemesse, bemesse ich auch mich. Bemesse wie viel ich essen darf, proportional zur Leistung die ich erbracht habe. Bemesse wie viel Raum ich einnehmen darf, nicht ohne davor sicher zu gehen ausreichend Opfer dafür erbracht zu haben – conditio sine qua non. Bemesse wie viel Energie mir zusteht, wie ich dafür kompensieren kann und wie ich den Balanceakt meistern kann.

Der schmale Grat wird immer schmaler und schließlich zur Linie. X=0. Das perfekte Gewicht?

Projektaufruf: Mädchen und Frauen mit Essstörungen jeden Alters gesucht!

Vor einigen Wochen erreichte mich auf Facebook eine Nachricht von Melanie. Sie hatte meinen Artikel in der Brigitte gelesen und versucht mich zu kontaktieren. Sie schrieb mir, dass sie ein Fotoprojekt über Essstörungen auf die Beine stellen wolle und ob ich Interesse hätte dabei zu sein.
Nach einer kurzen Beschreibung, wie genau das Ganze aussehen soll, habe ich zugesagt. Seitdem ist Melanie fleißig am Planen – und wie ich finde mit Erfolg. Nun steht das Projekt in den Startlöchern und es ist an der Zeit Betroffene darüber zu informieren und dazu aufzurufen ebenfalls mit zu machen.
Vielleicht möchtet ihr ja auch dabei sein? Anbei nun der gesamte Text!
Mädchen und Frauen mit Essstörungen (jeden Alters) für Projekt gesucht!
Weißt du wie es sich anfühlt, den ganzen Tag mit dem Gedanken an Essen beschäftigt zu sein? Weißt du wie es sich anfühlt, den Kopf voller Kalorientabellen zu haben? Weißt du wie es sich anfühlt, unkontrolliert all das zu verschlingen, was du dir eigentlich verboten hast?
Weißt du wie es sich anfühlt, danach einem schlechten Gewissen zu erliegen und alles wieder loswerden zu wollen?
Weißt du wie es sich anfühlt, mit deinem Körper auf Kriegsfuß zu stehen und das eigene Spiegelbild nicht mehr wieder
zu erkennen? Weißt du wie es sich anfühlt, wenn die schockierten Blicke anderer Menschen auf dir lasten? Weißt du wie es sichanfühlt, einsam zu sein, weil du keinen mehr an dich heranlässt?
Und: Hast du es satt, Zeit und Energie in etwas zu verschwenden, das dir eigentlich nur im Weg steht?
Dann geht es dir so wie mir.
Mein Name ist Melanie,ich bin 24 Jahre alt und wohne seit einem knappen Jahr in einer betreuten Wohngemeinschaft für junge Menschen mit Essstörungen. Wegen Magersucht bin ich seit längerem regelmäßig in therapeutischer Behandlung. Und ich bin wütend. Warum?
Weil ich so sehr in einer Krankheit gefangen war, dass ich nicht nur jegliche Begeisterung und Freude, sondern auch die Hoffnung auf mein eigen es Leben verloren hatte. Aber das ist nicht der einzige Grund. Wütend bin ich auch, weil
meiner Ansicht nach die Medien immer noch ein oft undifferenziertes, klischeehaftes Bild über Essstörungen vermitteln. Junge Mädchen, die unter dem Einfluss von Fernsehsendungen sowie Modezeitschriften diät- und fitnesshungrigen Hollywoodstars und Models nacheifern, weil sie ebenso dünn sein wollen.
In vielen Medienberichten über Essstörungen werden die Hintergründe und Ursachen der Krankheit kaum thematisiert, ebenso wenig wie ihr Facettenreichtum.
Ich habe viele Betroffene kennen gelernt und sehe die Parallelen. Diesen gegenüber stehen aber auch zahlreiche Unterschiede: Erscheinungsform und Ausmaß, Entstehung, Alter und konkretes Verhalten der Personen sowie Umgang und Bewältigungsversuche sind immer individuell unterschiedlich.
Zurzeit arbeite ich daher an einem Projekt, das unter anderem diese Vielfältigkeit klar machen soll. Dafür möchte ich verschiedene erkrankte Mädchen und Frauen zu ihren eigenen Erfahrungen befragen.
Egal ob Magersucht, Bulimie, Binge Eating, Esssucht. Egal ob noch am Anfang, auf dem Weg der Besserung oder schon fast gesund. Dabei werden Fotos entstehen, und zwar in Momenten, in denen es gelingt, die Essstörung vielleicht für einen
Augenblick zu vergessen. Orte oder Tätigkeiten, die Hoffnung geben und die Kraft, weiter zu kämpfen. Hier ist alles denkbar: tanzen, meditieren, auf dem Meer segeln, in der Sonne sitzen. Die Person kann im Ganzen zu sehen sein oder nur ausschnittsweise, zum Beispiel Gesicht oder Hände.
Am wichtigsten ist das Wohlfühlen in der Situation. Mit den Fotos und Erfahrungsberichten möchte ich verdeutlichen, dass es DIE Esssgestörte nicht gibt, denn jeder empfindet anders. Ich will Mädchen und Frauen Mut machen und zeigen, dass es sich lohnt, für mehr Lebensfreude einzutreten.
Dass es ein langer und steiniger Weg bis zum Ziel ist, der oft einige Rückschritte bereit hält, aber kein aussichtsloser.
Wenn du mich dabei unterstützen möchtest, melde dich einfach per E-Mail (kausch.melanie@googlemail.com) bei mir. Für weitere Fragen oder zum näheren Kennenlernen stehe ich gerne (auch telefonisch) bereit.
Das Projekt soll idealerweise in einer kleinen Ausstellung oder einem Bildband münden, um Fotos und Interviews zu präsentieren.
Ich freue mich auf deine Antwort.
Alles Liebe,
Melanie

„Heute sind doch alle magersüchtig“ für den Grimme-Preis nominiert!

Vor einiger Zeit habe ich auf Nora Burgards Seite www.anorexie-heute.de einen Gastbeitrag veröffentlicht.

(Klick hier: http://www.anorexie-heute.de/gastbeitrag-guter-apfel-schlechter-apfel/ )

Ihr Projekt “Heute sind doch alle magersüchtig” ist nun für den Grimme-Preis nominiert worden. Unten bei hat sie mir den Link zur Abstimmung mitgesendet. Es wäre super wenn ihr fleißig mitklicken könntet.

“Dies zeigt, wie wichtig die Auseinandersetzung mit Essstörungen auch in der Öffentlichkeit ist. Ich will aufklären und so vielen Menschen wie möglich zeigen, dass eine Essstörung kompliziert ist und nur in den seltensten Fällen etwas mit Schönheitswahn zu tun hat (…)Es geht um den Publikumspreis! Einfach auf diesen Link gehen, runterscrollen und bei meinem Projekt auf “Stimme abgeben”

http://www.tvspielfilm.de/news-und-specials/grimme/abstimmung/

Danke!

In Dubio pro reo – Im Zweifel für den Angeklagten

Lügen haben dünne Beine. Essgestörte, dünne Gabelbeine. Wir lügen uns an und wir lügen die Anderen an. Wir lügen Lügen und verzerren die Wahrheit, sowie der Spiegel unser Bild. Wir werden zu den besten, zu den allerbesten Lügnern. Unsere Lügen sind süß, weil die Wahrheit viel zu bitter ist. Irgendwann können wir gar nicht mehr zwischen Lüge und Realität unterscheiden.

Wir lügen aus so vielen verschiedenen Gründen. Wir lügen um uns selbst und die Anderen zu manipulieren:

Einmal – ok ich weiss es ganz genau (es war der 22. Mai 2013) schließlich hab‘ ich es protokolliert…jedenfalls einmal, wollte ich dass meine Mutter endlich aufhört zu weinen. Einerseits aus Mitleid, größtenteils jedoch aus Angst ihre Schwäche und Emotionen könnten auf mich überschwappen. Also habe ich ihr versprochen ich würde ein Schinkenbrötchen essen. Wir gingen in den Supermarkt, haben den perfekten Schinken selektiert und das (fast) perfekte Brötchen auserkoren. Haben zusammen Salat zerstückelt, in tausend kleine Teile, haben den Quark auf’s Gramm genau abgewogen und das Brötchen nahezu geometrisch linear in der Mitte geteilt. Doch – natürlich – würde ich diese Kohlenhydrat-Bombe nicht essen. Nie im Leben! Und schon gar nicht nach 18 Uhr – Wie absurd. In einer unbeobachteten Sekunde also riss ich das Brotinnere, als ginge es um mein Leben, aus der 72 Gramm schweren Backware und stopfte es mir in die Jackentasche. Schneide schnell noch etwas von der 25 Gramm schweren Schinkenscheibe ab und kratze den Quark so gut es geht vom Rand weg. Ab damit in die Jackentasche- Die Waage, wo ist die verdammte Küchenwaage… im Hintergrund meine Mutter die aus dem Badezimmer zurück auf dem Weg in die Küche ist. Verdammtes Ding, wo bist du? Hier! 37 Gramm. – 93 Kalorien. Das heißt ich muss heute 30 Sit-Ups mehr machen. Schnell die Waage in die Ecke geschmissen, breites Grinsen aufgesetzt, das akkurat drapierte Brötchen subtil ins Blickfeld gerückt – Showtime. „Bin fertig, Mama. Ich esse mit euch im Wohnzimmer, okay?“ Familienheil wiederhergestellt. Verlogen grinsend und ohne Scham setze ich mich mit meiner 37 Gramm-Brötchenkruste an den Esstisch. In der Jackentasche noch das corpus delicti. Fraus omnia corrumpit.

Wir lügen um uns und die Anderen zu schützen. Die Wahrheit tut nicht nur weh, sie kann auch verpflichten. Und wer möchte schon andere für sich verpflichten? Also lüge ich einfach.
Wenn ich meinen Eltern erzählt habe ich ginge in die Uni, bin ich stattdessen wie irre durch den Park gerannt und habe mich noch kurz vor dem Zusammenbruch auf eine Kinderschaukel gehechtet. Wenn ich ihnen am Abend dann von der spannenden Vorlesung berichtet habe, sah ich vor meinem inneren Auge eine Kalorien-Slot-Maschine die blätterte und blätterte und bei -1284 zum Stillstand kam. 1284 Kalorien verbrannt. Highscore. Quod non est licitum lege, necessitas facit licitum.

Wenn meine Kommilitonen mich einluden mit in die Mensa zu kommen, erzählte ich ich hätte in der Mittagspause einen Zahnarzttermin. Oder ich besuche meine Oma im Krankenhaus. Oder ich muss noch ein Geschenk für meinen Vater besorgen. Oder ich hab was zu essen dabei und esse in der Bibliothek. Tatsächlich eher plakative Beispiele. Ob sie funktioniert haben weiß ich nicht einmal. In meiner Welt hatten sie das jedenfalls. Denn somit hatte ich für mich jegliche Schuld von mir abgeschüttelt. Nemo tenetur se ipsum accusare.

Darüber hinaus belügen wir uns auch selbst.
200 Kalorien sind genug. Zumindest dann, wenn man sich nicht viel bewegt und nur 3 Stunden Gymnastik im Zimmer gemacht hat. Quasi Ruhezustand. Da trifft dieser Tagesbedarfquatsch nicht zu. Auf mich sowieso nicht. Also alles bestens. Roma locuta causa finita.

Nur noch 2 Kilo. 2 Kilo und dann hör ich auf. Das ist mein Wohlfühlgewicht, schon immer gewesen. Suum cuique.
Wahrscheinlich gibt es noch mindestens 200 weitere Arten von Lügen und jeweils 200 weitere Beispiel für jede Einzelne. Aber was ich sagen will ist, dass jede Lüge im Grunde eigentlich nur ein Plädoyer zur eigenen Verteidigung ist. Wenn die Wahrheit ein zu großes Risiko birgt, dann ist die Lüge das Mittel zum Zweck.

Manchmal sind die Anderen Richter, manchmal ist man der Richter selbst und manchmal gibt es keinen der darüber entscheiden mag. Trotzdessen hält man seine Rede und hofft man merzt alle Zweifel am Gesagten aus. Denn letztendlich wollen wir doch alle nur Recht und Ordnung schaffen – ob mit Lüge oder Wahrheit.

Wunderheilung

„Du schaust ganz super aus so. Viel, viel besser. Richtig gesund.“ Meine Freundin M. strahlt über beide Ohren, als sie mich nach guten 18 Monaten zum ersten Mal wieder sieht. Ich nicke erst mal, schlucke ganz tief und versuche zum Dank zu lächeln.

Richtig gesund also. Was für den Rest der Welt wie ein Kompliment klingt, hört sich für mich beschämend und grauenvoll an.

Als mir meine Oma nach dem ersten Wiedersehen nach meinem Klinikaufenthalt in die Wangen kniff, habe ich innerlich ganz langsam bis zehn gezählt. Und dann gleich nochmal. „Bleib ganz ruhig!“ habe ich mich selbst beschwichtigt und nach außen hin keine Miene verzogen.
Als meine Mutter zwei Wochen später freudenstrahlend von meinem gesunden, satten Teint schwärmt, rast mein Puls auf 180. In Gedanken brülle ich so laut ich kann.

In meiner verkehrten, anorektischen Welt bedeutet gesund nämlich nicht gesund. Gesund bedeutet nicht, zufrieden, erholt, frisch oder lebendig auszusehen. Bei dem Wort gesund ploppt in meinem magersüchtigen Hirn unweigerlich und automatisch der leibhaftige Schrecken in Person auf. Ein kleines rundes, pummeliges, wohlgenährtes, kräftiges und kompakt aussehendes Mädchen, das zwischen den prallen rosa Bäckchen seine Zähne zeigt und einen Arm in die ausladende Hüfte stemmt.
Eine kurvige, dralle, vollbusige Dame, mit starken Oberarmen und leichtem Doppelkinn, Bauchansatz und Hosengröße 42.
Wie die Cornflakespackung-Vintage-50er Jahre Hausfrau mit der Lockenfrisur.
Vor meinen Augen schwellen meine Brüste auf das Doppelte an, die Nähte der weißen Bluse beginnen zu spannen und meine Hose schneidet in die Schenkel ein. Meine Wangen beginnen sich zu füllen und meine Oberarme beim Gehen zu wackeln. Das Gefühl ist unerträglich.

Einer Essgestörten zu sagen, sie sehe nun wieder gesund aus, ist womöglich eines der größten Missverständnisse in der Kommunikation. Es ist kein Kompliment. So unverständlich und absurd es auch klingen mag – es ist das komplette Gegenteil.

Auch die subtile Version fühlt sich wie ein Schlag ins Gesicht an.
„Für mich bitte den großen Latte Macchiatto!“ Die Bedienung holt aus: „Low-Fat oder normal?“
Klatsch! Volltreffer. „Low-Fat bitte (bitte nicht. Schmeckt zum Kotzen).“ Die Magersucht in mir traut sich nicht auf ihren anständigen Latte Macchiatto zu bestehen. Zu beschämend ist die Vorstellung, dass mich die gute Frau für gierig halten könnte. Hätte ich den Low-Fat Kaffee nicht nötig, hätte sie sicher nicht danach gefragt.
Vor zwei Jahren noch, wäre diese Frage unmöglich gewesen. Die mitleidigen Blicke im Café, wenn ich am schwarzen Kaffee genippt habe oder wenn alle angestrengt versucht haben wegzuschauen, während ich die Kuchen an der Auslage mit Faszination gemustert habe. Niemals hätte mich jemand auch nur annähernd so etwas gefragt.
Aber jetzt, wo ich nun wieder gesund, ja fast schon ZU gesund aussehe, da ist diese Frage völlig berechtigt. Ich bin eine ganz normale, junge Frau, die mit ihrer Freundin im Café sitzt und einen Latte Macchiatto bestellt. Eine Frau, die vielleicht auf ihre Ernährung achtet oder ihre Vorbereitungen für die Sommerfigur 2015 eingeleitet hat. Eine völlig berechtigte Frage also.

Fernab von oberflächlichen Äußerlichkeiten bedeutet die Gesundheit und Normalität noch etwas anderes: Mein Sonderstatus wurde mich nun endgültig aberkannt. Ich muss nun nichtmehr in Watte gepackt werden. Ich bin wieder eine von vielen. Und das Bedrohlichste daran: Ich bin nichtmehr sicher von den Widrigkeiten des normalen Alltags. Ich kann wieder kritisiert werden, bin wieder verletzbar und muss wieder für mich selbst einstehen.
Ich habe jetzt wieder genug Ressourcen dafür, genug Kraft und genug Energie. Ich bin gesund und kräftig und brauche keine Krücken mehr.
Und gerade deshalb, weil ich alles andere als stabil bin, ist es unerträglich so bezeichnet zu werden. Es macht Angst und Druck. Gesund zu sein, bedeutet so viel mehr, als „nicht mehr krank“ zu sein.
Vor allem wenn der Kopf es noch ist.

Mit zweierlei Maß gemessen

Wenn man mal Honig gegessen hat, kann dann jemals wieder irgendetwas süß sein?

Oder – was ich damit meine ist, kann „normal“ sich irgendwann wieder wie „normal“ und nicht wie „schlecht“ anfühlen?

Irgendwann habe ich damit angefangen meine Messlatte immer ein bisschen höher zu hängen. Zentimeter für Zentimeter. Die Grenzen nach oben waren plötzlich offen. Meine Möglichkeiten nicht mehr eingeschränkt. Ich wollte das Optimum erreichen. Und wenn ich kurz davor war, musste das Optimum noch optimiert werden. Ziele wurden zu Aufgaben, zu Pflichten und schlussendlich zu Zwängen. Es gab kein Ideal, das nicht idealisiert werden konnte, kein „Perfekt“ was nicht perfektioniert werden könnte, kein Punkt an dem Zufriedenheit hätte einkehren können. Ironischer weise war ich mir dessen zu jeder Zeit bewusst. Und ich wollte es trotzdem. Ich wollte mir und dem Rest der Welt beweisen, dass ich nicht gewöhnlich bin. Dass ich auf alles noch eine Extraportion drauflegen kann. Dass ich eine Art Übermensch bin. Niemand hat mich im Griff. Nicht einmal die Natur.

Medizinisch betrachtet ist es eigentlich unmöglich ohne einen gedeckten Nährstoffbedarf und ohne Energie zu existieren. Laut der WHO ist ein BMI unter 15 lebensgefährlich. Unter 13 spricht man sogar von „nicht lebensfähig.“ Aber ich war lebensfähig. Ich war lebens- und leistungsfähig. Drei Mal die Woche war ich beim Sport. Am Wochenende noch schwimmen. Neben der Schule gab ich Nachhilfe. Ich belegte 4 außerschulische Arbeitsgruppen. In einer davon war ich in der leitenden Position. Mein Abitur habe ich mit Auszeichnung bestanden. Nach der Schule habe ich gekocht und den Haushalt geschmissen. Ich habe 8 Stunden in der Bibliothek gelernt. Habe alle meine Uniprüfungen bestanden. Was ich zu erledigen hatte, habe ich erledigt. Und das alles mit den minimalsten Ressourcen. Warum das funktioniert hat weiß ich bis heute nicht. Fakt ist allerdings dass es funktioniert hat und dass nicht die WHO sondern ICH Recht hatte. Und ich kann nicht leugnen, dass ich bei dem Gedanken daran und beim Tippen dieser Zeilen einen triumphalen innerlichen Höhenflug durchlebe. Auch wenn am Ende die Ernüchterung einkehrte. Es funktionierte. Und funktionierte. Und dann kam der Nervenzusammenbruch. Dann der richtige Zusammenbruch. Dann stürzte alles ein und ich war wie außer Gefecht gesetzt. Von heute auf morgen.

Und das ist der Punkt an dem ich anfing, einsehen zu müssen dass es eben doch Grenzen gibt. Und dass alles was nicht perfekt ist nicht auch automatisch schlecht ist. Dass ein Kilogramm mehr nicht fett, sondern ein Schritt zur Normalität ist. Meine Messlatte hing völlig in den Seilen. Schwebte irgendwo da, wo mein Höhenflug aufgehört hatte.

Ich wage zu behaupten dass ich meine Messlatte mittlerweile langsam aber sicher wieder auf den Boden der Realität zurückhole. Und trotzdem merke ich immer wieder, dass ich meine Ansprüche eigentlich nicht runter schrauben möchte. 90 Prozent befriedigen mich nicht. Zumindest nicht so, dass ich aufhören kann darüber nachzudenken wie ich die 100 erreichen könnte. Objektiv betrachtet müssten mir die 90 Prozent ausreichend Zufriedenheit verschaffen. Subjektiv betrachtet sind 90 Prozent aber immer noch ein Scheitern. Ich schaffe es nicht meine Messlatte zu normalisieren. Jetzt wo sie wieder greifbar ist, muss auch für die richtige Skalierung gesorgt werden. Und daran scheitere ich leider viel zu oft.

Allerdings habe ich festgestellt dass nicht nur Honig, sondern auch Schokolade, Eiscreme und Feingebäck süß sein können. Das ist gut. Denn sollte der Honig mal aus sein, kann ich auf Alternativen zurückgreifen.

Copyright

In eigener Sache:

Ich freue mich immer wenn euch meine Texte gefallen und freue mich auch sehr wenn ihr sie verwendet, rebloggt, twittert oder was auch immer. Was mich weniger freut ist, wenn ihr sie als eure eigenen präsentiert und wenn ihr keine Quellenangaben macht. Finde ich doof. Aus aktuellem Anlass möchte ich daher darauf hinweisen, dass Veröffentlichungen bitte immer mit Quellenangaben und bei ggbf. Änderung diese erkennbar gemacht werden. Vielen Dank!

Ich bin Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

I lift my arm out of the water. It’s a log. Put it back under and it blows up even bigger. People see the log and call it a twig. They yell at me because I can’t see what they see. Nobody can explain to me why my eyes work different than theirs. Nobody can make it stop. ”

aus: Wintergirls von Laurie Halse Anderson

Ich weiß nicht wie alle anderen es schaffen „normal“ zu leben, „normal“ zu sehen, „normal“ zu sein. Wie schaffen sie es jeden Morgen aufzustehen, die Bahn zur Arbeit zu nehmen, dort voll konzentriert und zu 100 % leistungsfähig zu sein, am Abend das Privat- und Sozialleben aufrecht zu erhalten und ganz nebenbei noch genug Zeit für sich selbst zu finden, sodass sie am Abend zufrieden einschlafen können, um morgen wieder genau das Selbe zu tun?

Wie kamen sie überhaupt so weit? Wie schaffen es denn all‘ die anderen auf dem Weg dorthin nicht die Richtung zu verlieren?

Ich habe manchmal den Eindruck unsere Eltern sind eifrige, ehrgeizige Forscher und experimentieren mit uns. Sie formen uns nach ihren Wünschen und Vorstellungen, so als wären wir Knetmasse oder eine chemische Flüssigkeit. Ein bisschen Sport, Tanzen ist toll, ein hübsches Hobby, zum Beispiel Klavier, etwas Soziales, Ehrgeiz und Ambitionen, keine schlechten Noten, Attraktivität, Vitalität, Lebensfreude und Höflichkeit. Ein wenig Verantwortungsbewusstsein noch dazu. Aufgießen mit einer Tasse Selbstbewusstsein. Fertig. Und natürlich gelingt das Experiment nie. Irgendwas fehlt immer. Aber dennoch sind die meisten von uns keine Abfallprodukte. Trotz ihrer Mängel schaffen sie es ihren Zweck zu erfüllen. Nur ich scheitere daran.

Meine Reaktionsgleichung bleibt unvollständig und macht mich zum gescheiterten Experiment. Anstatt alle die Fähigkeiten, die sie mir eingeimpft haben, zu nutzen, verschwende ich sie. Noch schlimmer. Ich missachte sie. Ich lasse meinen Ehrgeiz einfach so hinweg gleiten, lasse meine Ambitionen im Sand versiegen und lebe ohne Perspektiven. Ich richte all meine Höflichkeit, Aufrichtigkeit und Anpassungsfähigkeit nach außen und dafür all meinen Selbsthass, meine Zweifel und mein Rebellionspotenzial nach innen. Bei mir sind es nicht die Feinheiten und die Details an denen das Experiment scheitert. Es ist nicht nur so, dass anstatt rosa Rauchwolken die meinen rot sind, dass anstatt Funken Rauch aus meinen Ohren kommt oder dass ich leiser knalle als erwartet. Ich bin Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

Ich bin überfordert mit der Normalität. Ich schaffe es nicht das Maß zu finden und zu akzeptieren. Ich bin unentwegt auf einer Gradwanderung zwischen zwei Extremen. Ich schaffe es nicht einfach so aufzustehen, einfach so in die Arbeit zu gehen, einfach so meinen täglichen Pflichten nachzugehen und einfach so zufrieden mit mir zu sein. Es fühlt sich nie normal an, eher fremd. Wenn ich in Extremen lebe fühlt es sich hingegen anders an. Ich mag die Ekstase und das Übermaß oder aber auch das völlige Vakuum. Es ist einprägsam und spürbar. Außerdem ist es sicher. Es gibt mir die Sicherheit, dass das was ich fühle richtig ist.

Die Normalität hingegen wird zum Selbstläufer und verschluckt mich. Mich und meinen eigenen Willen. Es gibt Tage an denen will man einfach nicht zur Arbeit gehen, nicht leistungsfähig sein, nicht nett und höflich sein und auch nichts mit den Freunden unternehmen. Aber die Routine unterbindet diese Gefühle. All das ist normal. Es ist unabdingbar. Es führt kein Weg vorbei.

Außer man nimmt den falschen Weg. Das Drahtseil über dem Abgrund. Dann ist man wenigstens sicher vor der Normalität.

Russisches Roulette

62- Das war das Ziel. Nach Weihnachten habe ich ganz schön zugenommen. 65.5 zeigte die Waage heute Morgen. Die Weihnachtspute macht es sich auf meinen Hüften gemütlich.

Nur 3 Kilos. Damit da wieder ein Puffer ist. 62 und ich werde vollkommen zufrieden sein. Nur ein bisschen abnehmen. Nur 3 Kilos, mehr nicht.

Und tatsächlich. Als meine Waage dann 62 anzeigt bin ich überglücklich. Aber irgendetwas in mir möchte mehr.

Vielleicht noch 2 Kilos. Nur noch zwei. Bis zur 60. 60 sind perfekt. Mehr nicht. 60 ist schön, eine runde Zahl. Eine schönere Zahl. Gerade und rund. Erfolg auf ganzer Linie. Eine wirklich, wirklich hübsche Zahl.

Und dann steht sie da. Die 60. Und sie steht mir so gut. Eigentlich könnte ich es jetzt also dabei belassen. Mehr wollte ich ja nicht. Aber plötzlich habe ich da so eine Idee.

 

Zur fünf vornedran fehlen mir nur 100 Gramm. Lächerliche 100 Gramm. Ein Kinderspiel. Ich will die fünf sehen. Nur einmal. Danach ist es genug. Danach hör ich auch auf. Nur noch die fünf.

 

Unfassbar, aber da steht sie. Die Fünf. Ich kann es kaum glauben. 59.7 Kilogramm. Die sechs ist verschwunden.

 

Die 5 ist mein Triumph. Die Fünf fühlt sich unfassbar gut an. Nur die 9…die stört mich. Wenn ich die fünf behalten möchte dann brauche ich einen kleinen Spielraum. Nur ´nen Klitzeklitzekleinen.58! Das muss reichen. 58 sind das endgültige Ziel!

 

Und auch das schaffe ich. Auf den Punkt genau. 58.0 Kilogramm stehen nun auf meiner Waage. Ich bin so stolz wie schon lange nichtmehr.

Ich bin leichter als nie zuvor. Achtundfünfzig. Fünf-Acht. Klingt wie Musik in meinen Ohren.

 

Aber plötzlich bekomme ich Angst.

Was wenn der Spielraum nicht groß genug ist? Was wenn er nicht ausreicht? Ich habe Angst vor der 6. Ich will die sechs nicht mehr sehen. Nie, nie mehr. Die fünf fühlt sich viel zu gut an. Ich brauche noch 1 Kilogramm. Eins noch.

57. Geschafft. Aber irgendwas ist komisch. Die Zahl befriedigt mich nicht. Ich kann mich gar nicht freuen.

Ich muss etwas versuchen. Die Fünfundfünfzig.

Klingt utopisch. Aber schon allein der Gedanke an die zwei Fünfen lässt mein Herz höher schlagen.

Mit den höheren Zielen steigen auch die Anforderungen und die Anstrengungen. Die 55 sind ein Kampf. Sie verlangen mir alles ab. Mein kompletter Tagesablauf dreht sich nur noch um dieses eine Ziel. Das große Ziel. Die 55. Ich träume nachts davon.

Inzwischen ist es Mai. Die Semesterferien habe ich damit verbracht Kalorien zu zählen. Die Hausarbeit schrieb ich nebenher. Einmal bin ich in der Bibliothek zusammengebrochen. Ich hatte vergessen zu trinken. Der Notdienst hat mir Infusionen gelegt. Danach war ich furchtbar aufgeschwemmt. Aufgeblasen und rund wie ein Ballon.

Am 22.5. habe ich es geschafft. Erschöpft renne ich gegen halb 5 am Morgen auf die Waage. Habe die ganze Nacht damit verbracht  Entwässerungs- und Abführtabletten zu schlucken um die Flüssigkeit auszuspülen.

Warten. Augen Öffnen. Mein Herz pocht wie wild.

Ich traue mich kaum den Blick zu senken.

1-2-3.

54.9!

Ich stürme in mein Zimmer. Hole sofort das Gewichtsstagebuch heraus. Dafür brauche ich eine frische Seite.

54.9. 54.9. 54.9. 54.9. Ich könnte die Welt umarmen. Ich bin so glücklich. Ich liebe diese Zahl. Ich liebe die Waage.Ich liebe diesen Tag. Nichts kann mich jetzt noch runterziehen.

In der Uni kann ich mich kaum konzentrieren. Ich starre auf die weisse Wand. Kann kaum stillsitzen.

Ich muss laufen. Ich muss mich bewegen.

 

Endlich Pause. Ich laufe los. Habe genau 1.5 Stunden Zeit. Während die anderen in der Mensa sitzen laufe ich und laufe, laufe und laufe. Ich laufe einfach nur.

Ich muss laufen. Ich muss abnehmen.

Juni.

Ich schaffe es nicht mehr morgens aufzustehen. Mir ist zu kalt, ich bin zu schwach und zu müde. Also bleibe ich liegen. Die Waage zeigt 52 Kilogramm.

Viel zu viel. Ich brauche die 50.

Juli.

Keiner versteht mich.

Alle reden sie hinter meinem Rücken über mich. Meine Eltern machen mir Vorwürfe. Sie sagen ich brauche Hilfe.

Lächerlich. Gerade heute bin ich so glücklich wie noch nie zuvor in meinem ganzen Leben.

Heute habe ich die 50 geknackt.

Ich bin so glücklich wie noch nie zuvor. Keiner versteht mich.

 

August.

1 Meter 73 groß, 48 Kilogramm schwer. Das bin ich. Nicht mehr, nicht weniger. Eine Zahl. Identitätslos. Eine Masse.

Zu viel.

Herbst

Für die anderen beginnt das Semester. Ich bin daheim. Ich möchte nichtmehr raus. Nie mehr. Ich schäme mich zu sehr. Ich bin zu fett. Ich wiege 45 Kilogramm.

Winter

Meine Familie feiert Weihnachten dieses Jahr ohne mich. Meine Freunde sind inzwischen nur noch Bekannte. Die Waage ist die Einzige die zu mir hält. Während meine Familie zusammen die Weihnachtspute anschneidet, liege ich in Zimmer Nummer 16 auf Station 5 und starre aus dem Fenster.

Heute Morgen waren es 42.7. 600 Gramm mehr als gestern. 2700 Gramm zu viel.

Ich möchte wieder auf die 40. Die 40 und nichts anderes. Ich brauche keine Familie, keine Freunde, kein Studium und kein Weihnachten. Ich brauche nur diese 40 Kilogramm. Alles was ich mir dieses Jahr wünsche sind 40 Kilo.

Die hedonistische Asketin

„Enthaltsamkeit ist das feinste und delikateste aller Lustgefühle.“
Louise Florence Pétronille Tardieu des Clavelles, Madame D’Epinay (1726 – 1783),
französische Schriftstellerin

Unweigerlich drängt sich mir dieses Zitat geradezu auf. Es beschreibt nicht nur (m)eine Haltung, meine Denkweise, meine Sicht der Dinge, sondern zudem die Quintessenz meiner Essstörung.

Immer auf der Suche nach dem Kick, dem ultimativen Hochgefühl, dem Sinn und Zweck des Daseins. Aber nicht auf konventionelle Weise – nein. Ich will keinen Hedonismus pflegen. Will nicht auf so banale, triebgesteuerte Weise meine Befriedigung durch Lust und Genuss herbeiführen. Ich brauche etwas anderes. Etwas Dezentes, Unauffälliges, Sanftes, fast schon Unsichtbares. Die Enthaltsamkeit.

Elfengleich und lautlos umhüllt die Askese meine Handlungsweisen und lässt sie auf eine besonders erhabene Art und Weise gerechtfertigt und ehrbar erscheinen. Wenn man sich diese beiden Attribute dann noch verwehrt und sie durch Devotion und Demut mindert, hat man sein eigenes „unsichtbares“ Ich kreiert.

Gleichzeitig erweckt man den Anschein völlig autonom und frei von Bedürfnissen zu sein. Und verrät damit ironischer weise sein größtes, nicht leugbares und unliebsamstes Bedürfnis von allen. Der Wunsch bedürfnislos zu sein. Ein wahrer Asket.

Das Dilemma ist das Problem der Essstörung. Ohne Essen funktioniert ein Mensch nicht. Essen ist kein Luxusgut, kein Austauschmittel, kein Extra und keine beliebige Zweckmäßigkeit. Es ist essentiell um ein Leben aufrecht zu erhalten.
Und trotzdem, so wohl ich das weiß, will ich mich der Natur widersetzen.
Also verzichte ich nicht völlig darauf. Ich esse. Aber was, wie viel, wann, womit, mit wem und weshalb bestimme ich. Das bleibt mein Ermessen. Ich will nicht akzeptieren, dass es Dinge gibt, an denen ich nichts ändern kann.
Ich bin mein unsichtbares Ich – ein asketisches, selbstbestimmtes Wesen. Frei von Trieben und Gelüsten. Wenn ich esse, dann weil ich möchte und nicht weil ich muss.

Beim Schreiben dieser Gedanken, die zu hundert Prozent den Kern treffen, wundere ich mich selbst über die Absurdität deren Inhalt.

Wieso denke ich so?

Ich glaube, weil ich außerhalb meiner Essstörung zu wenig Autonomie erfahren habe. Sicherlich ist diese Bewertung rein subjektiver Natur und zudem eine Charaktersache. Aber es ist mein Empfinden.

In der Essstörung gibt es keine Grenzen. Kein zu viel oder zu wenig. Niemanden der mich in die Schranken weist. Niemanden der mir sagt, was gut für mich ist. Niemanden der mir Dinge auferlegt. Niemanden der mir Dinge verbietet. Niemanden der meine Handlungen einschränkt oder lenkt. Niemanden der meine Dogmen und Rituale in Frage stellt.

Das Skurrile daran: Im Grunde genommen übernimmt die Essstörung nämlich genau diese Funktionen.

Das Weltbild der Ameise

Das Weltbild der Ameise

Wenn die Ameise
begriffe, dass ich sie beobachte,
ihr Weltbild wäre zerstört.
Wer weiß,
wie lange meins noch hält.

Hans-Peter Kraus


Manchmal, wenn es draußen grau und ungemütlich ist, der Herbst sich ankündigt, der Wind die Blätter aufmischt und gegen mein Fenster peitscht, überkommt mich eine schreckliche Melancholie und Wehmut.

Ich schaue mir dann alte Fotos an und frage mich bei jedem einzelnen ob ich da noch glücklich war. Ich versuche hinter das breite Grinsen und die gekniffenen Augen zu gelangen um herauszufinden was in diesem Moment in mir vorging. Ich klicke mich durch die Galerien der letzten Jahre und versuche den Punkt ausfindig zu machen an dem ich anfing unzufrieden zu sein. Ich weiss nicht wie viele Male ich das bereits schon getan habe.

Das Theaterstück in der sechsten Klasse. Ich trage einen lila Schlabberpulli und eine viel zu weite schwarze Bundfaltenhose. Grinse dazu in die Kamera. Eine furchtbare Erinnerung. Ich verkörpere „Das dicke Ende“ im Wortspiel „Das dicke Ende kommt zum Schluss“. Der wohl demütigste Höhepunkt eines schrecklichen Schuljahres. Meine Eltern haben jede Szene fotographisch festgehalten. Ich habe mich so unwohl gefühlt – aber war das der Punkt an dem es anfing?

Oder war es ein Jahr später? Ein Urlaubsfoto – Mein Bruder links, meine Eltern rechts und ich in der Mitte. Alle freudenstrahlend und sonnengebräunt am Strand in Griechenland. Meine Arme halte ich dezent verschränkt vor dem viel zu dicken Bauch. Meine Beine habe ich mit einen Strandtuch verhüllt. Verstohlen versuche ich mit viel Zahn gekonnt mein Unwohlsein zu überspielen.

Oder es war ein Jahr später? Abschlussball. Kunstvoll hochgesteckte Locken, viel Make-Up und ein bodenlanges schwarzes Abendkleid. Meine Freundinnen nebendran ebenfalls fein zu Recht gekämmt und im Gala-Look. Ich trage als einzige schwarze Handschuhe. Drei Wochen zuvor habe ich mich das erste Mal geschnitten. Habe die Nagelschere genommen und ein bisschen auf dem Unterarm gekratzt. Dann etwas fester. Noch fester. Dann habe ich plötzlich gedrückt und die Schere gleiten lassen. Von ganz unten wir zur Beuge. Aber war das der Tag?

Klassenfahrt nach Berlin – brütende Hitze. 36 Grad im Schatten. Das obligatorische Gruppenfoto vor dem Brandenburger Tor. Ich in der letzten Reihe, weites weißes T-Shirt und eine bodenlange Jeans. Habe mich nicht getraut etwas Kurzes anziehen und mich stattdessen entschieden zu schwitzen. Ein herzliches Lachen und der an der Stirn klebende Pony komplettieren das Bild. War es dann?

Eine leere, weiße Seite, DINA4, ein großes graues Fragezeichen in der Mitte, im Titel groß mein Name. Die persönliche Seite im Abibuch. Das Fragezeichen ersatzweiße für mein nicht vorhandenes Profilfoto. Auch den Fragebogen habe ich nichtausgefüllt. Was soll ich denn schreiben?

Meine Hobbies? Kalorien zählen, Backen, Kochen, Sport machen. Zukunftspläne? Hab‘ ich nicht.

Ein paar Kommentare finden sich ganz unten, ansonsten ist die Seite so unpersönlich wie das Horoskop in der BILD am Sonntag. Ich weiß nicht wer ich bin, weiß nicht wer ich war.

Ich erkenne mich nicht, auf keinem der Fotos. Ich weiß nicht wer diese glückliche, strahlende, junge Frau ist. Sie lacht und grinst, macht komische Dinge, nimmt aktiv am Leben teil und wirkt so lebendig – das war ich nicht. Ich war unzufrieden, traurig, nachdenklich, ernst und isoliert. Wie also soll ich denn nur herausfinden ab wann ich aufgehört habe ich selbst zu sein?

Ich habe nicht nur die Kameralinse sondern auch mich selbst belogen. So gut, dass ich mittlerweile selbst nicht mehr die Wahrheit kenne.

Der Regen hat aufgehört und die Sonne kommt raus. Die Wehmut ist plötzlich gar nicht mehr so erdrückend. Ich sollte aufhören, sollte vielleicht ein bisschen spazieren gehen, jetzt solange die Sonne noch scheint.

Die kleine Raupe (N)immersatt.

Als es Winter wurde und die kleine Raupe bemerkte dass sie sich fortan nicht mehr vom süssen Nektar der Blüten nähren kann, beschloss sie zum Schmetterling zu werden.

Doch als sie aus ihrem Kokon schlüpfte und ihre Flügel entfaltete, da war sie plötzlich gar nicht mehr hungrig.

245 Kalorien.

Es gibt Tage an denen erlebt man skurrile Dinge. Der heutige gehört definitiv dazu. Auf dem Heimweg von einem langen Arbeitstag sitze ich in der Bahn nach Hause und schaue gedankenvoll aus dem Fenster. Gegenüber eine junge Frau die hastig eine dick-belegte Laugenstange hinunter schlingt. Rechts neben mir ein alter Mann der seufzend die Tageszeitung studiert und hin und wieder das aktuelle Geschehen mit einem misslichen Stöhnen kommentiert.

Vielleicht ist es Zufall dass ich gerade heute meine Kopfhörer vergessen habe. Zwei Reihen weiter sitzen zwei junge Mädchen, angeregt im Gespräch. Vielleicht sind sie 15 oder 16. Höchstens 17. Die eine von ihnen trägt eine rosa Röhrenjeans und auffälliges Augenmakeup die andere eine überdimensionale Brille und einen Armee-Parka. Anlass für die hitzige Diskussion ist die Verpackung eines Schokoriegels. „245 Kalorien?“ Entsetzt blickt das Brillenmädchen im Wechsel auf das zerrissene Verpackungspapier und zu ihrer Freundin. „Krass“ vermerkt diese lediglich. Doch das Brillenmädchen scheint regelrecht in einer Art Schockstarre zu sein. Auf ein langes Schweigen folgt ein erneutes „ 245 Kalorien? 245? Zwei-Hundert-Fünf-Und-Vierzig?“ Die Röhrenjeans zuckt mit den Schultern. „Ja schon – Schokolade hat ja krass viele Kalorien. Das weiß man doch.“ „Ja, aber SO viele?“ Wieder nur ein Schulterzucken. Daraufhin hält das Brillenmädchen den Monolog der ausschlaggebend für diesen Blogeintrag war.

„Ey ohne Scheiss! Kein Wunder werde ich immer fetter. Ich fress die ganze Zeit so Zeug. Wenn ich gewusst hätte, dass drei von den Dingern so viel Kalos wie ne Pizza haben – ohne Witz – dann wär ich jetzt nicht so fett. Warum haben die geilen Sachen immer die meisten Kalorien? Man ey, das ist so scheisse. Das schmeckt halt echt so geil. Boa hey, krass. 245 man. Bei sowas wünsch ich mir ich wär magersüchtig. Dann würde ich mich nichtmehr trauen das zu essen.“

Der Satz trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. „Bei sowas wünsch ich mir ich wär magersüchtig.“

Hat sie das gerade wirklich gesagt? Hat sie wirklich gesagt sie wäre gern magersüchtig? Hat sie wirklich gesagt, sie wäre gern magersüchtig damit sie einem Schokoriegel widerstehen kann? Hat sie tatsächlich gerade diese Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt?

Ich muss mich anstrengen nicht aufzustehen und mich einzumischen. Stattdessen fechte ich den Wörterkampf nur imaginär.

Du möchtest also magersüchtig sein? So richtig, mit allem was dazu gehört? Du denkst, die Willenskraft einem Schokoriegel zu widerstehen entschädigt dafür, dass du dir eine psychische Erkrankung wünscht?

Du möchtest morgens aufwachen, um 5:30 so wie jeden Tag, mit Herzrasen und einem tonnenschweren Kloß im Hals, weil du Angst vor dem Gang auf die Waage hast? Du möchtest zitternd und betend alle deine Klamotten ausziehen, sie fast schon rituell zusammenfalten und dabei vor Aufregen kaum Atmen können? Für dich zählt jetzt jedes Gramm – die Socken, die Unterwäsche und sogar das Haargummi – alles muss weg. Du willst Präzision. Die Spannung ist kaum auszuhalten. Du steigst auf die Waage, die Augen geschlossen, dein Kopf pulsiert. Alles oder Nichts. Der Moment der Wahrheit. Ja kein Gramm zu viel, die Anzeige entscheidet über den Rest des Tages. Du machst sie auf. Sechsundvierzig Komma Vier. Zweihundert Gramm weniger als gestern. Geschafft. Erleichterung. Du hast es überstanden, kannst endlich laufen gehen. Du gehst ins Zimmer, schnappst dir deine Musik und eine Flasche Wasser und läufst los. Deine gewohnte Runde, die große. Vorbei an der Schule, dann am Friedhof, raus auf die Felder bis runter zum Waldrand, dann unter die Brücke entlang der Schnellstraße und über das Neubaugebiet zurück nach Hause.

Du bist erschöpft, völlig ausgelaugt. Aber das ignorierst du. Anstatt dir Energie zuzuführen schaltest du deinen Computer an und klickst dich durch Rezepte. Quiche Lorraine, Pilzrisotto, Nudelauflauf – in deinem Kopf malst du dir schönsten Bilder der leckersten Dinge. Schaust dir Bilder an, siehst dich an ihnen satt. Wie befriedigend. Nichts gegessen und trotzdem abgespeist.

Dann räumst du die Küche auf – so wie jeden Tag. Schranktüre auf, alles raus, das Müsli, die Konserven, die Marmelade, der Reis – alles raus. Aufgereiht. Und dann alles wieder rein. Nicht ohne jedes einzelne Lebensmittel fein säuberlich zu streicheln und zu betasten. Es liebevoll zu drappieren, sodass der Lebensmittelschrank dem eines Werbespots gleicht. Ein wunderbares Bild. Schiesst ein Foto – für deinen Blog. Den aktualisierst du nun. Die neuesten Bilder deine Kochkreationen werden online gestellt. Schon 16 Uhr. Zeit für deine Gymnastik. Schließt die Tür ab, machst die Musik an. Du musst ungestört sein. Brauchst deine Privatsphäre für diesen intimen Moment. 200 Situps, 100 Liegestützen, 200 Kniebeugen. Deine blau-gefleckten Knie schmerzen. Ein voller Erfolg.

Es folgt der wohl heiligste Moment des Tages. Die Nahrungsaufnahme. Die einzige Mahlzeit die du heute zu dir nehmen darfst. Das Abendessen – um Punkt 18 Uhr. Keine Sekunde später. Das muss gut geplant sein. Alles muss perfekt sein. Mit Bedacht und andächtiger Stille schneidest du das Gemüse. Reihst es auf dem Teller auf – sortiert nach Farbe. 1 große Fleischtomate, ein Drittel Gurke, ein Esslöffel Hüttenkäse gratiniert mit Salz und Pfeffer. Dir steht heute der Sinn nach mediterran. Du sitzt vor der Uhr. 17:59 – der Teller und das Glas Wasser stehen im rechten Winkel vor dir. Du sitzst kerzengerade auf dem Stuhl, hast sogar eine Kerze angezündet. Nichts darf diesen Moment stören. Das Highlight, dieser hochheilige Moment. Genau eine halbe Stunde dauert er. Danach beseitigst du die Spuren. Schnell weg – nichts darf daran erinnern dass hier noch vor ein paar Minuten gegessen wurde. Du bist müde – doch schlafen darfst du erst um 10. Das ist deine Schlafzeit. Schon seit Jahren. Daran darf nichts verändert werden. Also liest du Kochbücher. Bastelst eine Pizzacollage. Schaust dir Kochshows an. Du willst nicht mehr. Kannst es nichtmehr sehen aber machst trotzdem weiter. Denn das ist alles was du hast. Dein Lebensinhalt. Essen. Nicht essen. Alles dreht sich um Essen. Dein Kopf pocht und pulsiert – essen essen essen. Überall Kalorien. Fett. Du willst das es aufhört. Doch es geht immer weiter. Essen essen essen. Schokoriegel. 245 Kalorien. Undenkbar – sowas könntest du niemals essen. 245 Kalorien. Unmessbar viel. Zu viel. Zu viel für dic h. Fett Fett Fett. Essen. Kalorien.

Endlich 10 Uhr. Kraftlos fällst du ins Bett. Schließt die Augen. Willst nur noch einen leeren Kopf, kein Gedankenkreisen. Ein bisschen Ruhe. Du schläfst ein. Träumst von Schokoriegeln, von 245 Kalorien und von Essen. Morgen geht es wieder los. Der ewige Kampf gegen dich selbst. Aber immerhin bist du dünn. Immerhin hast du die Disziplin einem Schokoriegel zu wiederstehen. Das ist es wert. Das ist alles wert.

Entscheidungsfreiheit

Ich hasse Entscheidungen.

Ich konnte mich noch nie richtig zwischen etwas entscheiden. Schon mit vier aß ich meinen Toast mit Käse UND Marmelade. In der ersten Klasse hatte ich nicht EIN Lieblingsfach sondern drei. Meine Zimmerwände strich ich in Rosa UND blau. Zum 16. Wünschte ich mir ein Glätteisen UND einen Lockenstab. Im Abitur konnte ich mich nicht für eine Fremdsprache entscheiden; Also nahm ich sie alle. Entscheidungsschwierigkeiten stehen bei mir an der Tagesordnung, fressen sich bis ins winzigste Detail.

Wäre das nicht schon kompliziert genug ist da zudem noch diese andere Sache. Die Sache mit dem Essen, also die Magersucht. Doch tatsächlich ist die die einfachste Entscheidung unter all jenen. Das Patentrezept im Zweifelsfall.

Ich will mich nämlich gar nicht entscheiden. Will am liebsten für immer warten. Solange, bis mir die Entscheidung abgenommen wird. Solange, bis sich alle Probleme in Luft auflösen.

Weil das aber so nicht passieren wird, musste ich mich über kurz oder lang auflösen. Musste vor den Entscheidungen des Lebens flüchten, schnell, bevor sie mich noch einholen und auffressen.

Durch das Hungern habe ich kostbare Zeit gewonnen. Zeit in der ich Nachdenken kann. Zeit zum Abwägen, zum Überdenken, zum Evaluieren, zum Bewerten und zum Abwiegen. Meine Magersucht ist eine Entscheidungshilfe. Sie hilft mir zwar nicht mich auf etwas fest zu legen, verlagert den Fokus dafür auf eine ganz andere Ebene und lässt mich somit die anstehenden Entscheidungen vorerst vergessen. Studium, Zukunftsplanung, Perspektiven – das alles hat noch Zeit. Die Magersucht zwingt mich, mich mit den wirklich wichtigen Fragen zu beschäftigen.

Zum Beispiel mit der Frage nach dem perfekten Brötchen.

Könnt ihr euch vorstellen in eine Bäckerei zu gehen und einfach zwei Brötchen zu kaufen? Irgendwelche. Die, die eben da sind. Ohne lange darüber nachzudenken, ohne noch sieben weitere Bäcker aufzusuchen, ohne in Panik zu geraten? Ich kann es nicht.

Ich stehe vor der Theke, mustere sie alle, von oben bis unten, würde sie am liebsten hochheben, drücke mir die Nase am Glas platt und ignoriere die skeptischen Blicke der Anderen. Das kann auch schon mal 15 Minuten in Anspruch nehmen. Doch entschieden habe ich mich dann nicht. Zumindest nicht für ein Brötchen. Stattdessen erfolgt das gleiche Prozedere in den sieben weiteren Bäckereien im nächsten Umkreis. Um 18 Uhr wird mir die Entscheidung schließlich abgenommen – Ladenschluss. Ich muss mich wohl oder übel vor Ort auf zwei Exemplare festlegen. Es fühlt sich grauenvoll endgültig an. Für mich sind es nicht nur zwei Brötchen. Für mich ist eine Entscheidung. Die Entscheidung zu essen, die Entscheidung das bestmögliche Brötchen gefunden zu haben, die Entscheidung , dass sich meine Mühe gelohnt hat.

Und so zieht sich diese ewige Gedankenspinnerei durch mein ganzes Leben. Bis hin zur letzten, existentiellen Frage. Leben oder Sterben? Hungern oder Essen? Was steht auf einer Pro-Liste mit der Überschrift Tod? Was sind die Nachteile vom lebendig sein? Darüber habe ich noch nicht ausreichend nachgedacht. Aber ich bin dabei.

Ich schreibe (wieder)

Unfassbar. Ich schreibe wieder.
Ja, tatsächlich – ich habe es geschafft. Hab mich hingesetzt, den Laptop gestartet und einfach angefangen zu tippen.
Hat sich komisch angefühlt, aber mit jeder Zeile fühle ich mich besser. Lange Zeit hab‘ ich das nicht geschafft. Konnte nichtmehr schreiben. Konnte mich nichtmehr hinsetzen, nicht konzentrieren, nicht klar denken. In meinem Kopf ein einziges Chaos aus Kalorienangaben und Gewichtszahlen. Kein Platz für’s Schreiben, kein Platz für irgendetwas, das nicht in entferntester Weise mit Abnehmen gekoppelt werden könnte. Es hat einfach nicht mehr funktioniert.
Ich saß da, vor dem Bildschirm, hab ihn angestarrt, versucht an irgendwas zu denken, versucht meine Gedanken in Worte zu fassen, versucht die richtigen Tasten zu finden. Aber es hat nicht funktioniert.
Letztendlich saß ich weinend vor dem leeren Dokument. Hab alles weggehungert, das letzte bisschen Restverstand, meine einzige Möglichkeit abzuschalten.
Beim Schreiben dachte ich für kurze Zeit nicht an die Zahl auf der Waage. Ich hatte keine Angst vor dem nächsten Tag, in Panik ich könnte zu viel essen. Ich war einfach nur mit dem Kopf bei den Tasten. Habe einfach so drauf los getippt. Buchstabe für Buchstabe. Und am Ende war die Seite voll und mein Kopf leer.
Aber dann konnte ich es nichtmehr. Kein Wort konnte ich mehr schreiben, kein Gefühl mehr benennen. Da war nichtsmehr, außer Zahlen.
Und jetzt, jetzt sitze ich hier, die Sonne scheint, ich habe den aufgeklappten Laptop auf dem Schoss, trinke Kaffee und schreibe wieder. Es geht ganz leicht. Fast wie von selbst. Die Hände rasen geradezu über die Tastatur, aus Angst nicht hinterher zu kommen und kostbare Gedankenfäden vorbeiziehen zu lassen. Und ich tippe und tippe und tippe und vergesse dabei die Zeit.
Ich kann wieder schreiben und es ist das schönste Gefühl das ich seit Langem gespürt habe!

Freier Fall

Freier Fall
Aus unmessbaren Höhen
Flügel zerbrochen
Fallschirm öffnet sich nicht
Und die Luft peitscht
sticht mir ins Gesicht
Kalt und scharf
Und ich kann den Boden sehen
Immer näher immer grösser
Doch ich bin immer noch am Fallen
Will nicht landen weil ich Angst habe zu sterben
Will aber auch nicht mehr fallen weil der Wind so furchtbar schmerzt
Will nur frei sein
Ohne Fall
Will von den Wolken gefangen werden
Weich und warm wie Watte
So als wär ich federleicht
Doch die Physik treibt mich nach unten
Und ich lande auf dem kalten harten Asphalt
Breche mir die Beine
Und schaff es nichtmehr aufzustehen
Wenigstens ist es jetzt vorbei
Und ich bin noch am leben
Verkrüppelt und allein
Aber bin jetzt am Boden
Am tiefsten Punkt
Mit der Gewissheit
Nie mehr zu fallen
Aber auch nie mehr frei zu sein.

Mit der Zeit

Als ich zwölf war, fing jeder Morgen immer ganz genau gleich an.
Aufstehen um Punkt 7:00 Uhr, anziehen, Zähne putzen, Haare kämmen, Pferdeschwanz machen, Schultasche packen. Dann noch schnell eine Tasse Kaba und eine grosse Schüssel Schokocornflakes und um halb 8 aus dem Haus, in Richtung Schule.
Irgendwann dann, mit dreizehn, verabschiedete ich mich von dem Pferdeschwanz und trug mein Haar offen.
Mit vierzehn stand ich schon um 6:30 Uhr auf. Zum offenen Haar trug ich Lidschatten, Wimperntusche und Kajal und die Schokocornflakes verwandelten sich in Haferflocken mit Naturjoghurt. Mit fünfzehn tauschte ich den Schulranzen gegen eine grosse, blaue Handtasche und vergass manchmal die Haferflocken in den Joghurt zu mischen. Mit sechzehn wurden aus Haferflocken und Kaba, Mineralwasser und Apfel. Die Haut voller Make-Up und die Schuhe mit Absätzen, die beim Laufen Geräusche machten.
Mit siebzehn blieb nur noch Mineralwasser. In der Schultasche keine Hefte sondern Magazine.
Mit achtzehn dann, stand ich schon um 6:00 Uhr auf. Vor dem Zähne putzen machte ich Gymnastik und Liegestützen. Danach joggte ich zur Schule. In der blauen Tasche Mineralwasser, Abführmittel und mein Diättagebuch.
Mit neunzehn dann stand ich um 4:30 Uhr auf, weil ich nicht länger schlafen konnte. Zur Gymnastik und den Liegestützen kamen Situps und Kraftübungen. Die Joggingrunde wurde länger, da ich nun nicht mehr zur Schule ging. Nach dem Zähneputzen steckte ich mir ein Kaugummi in den Mund. Gegen Mittag trank ich schwarzen Kaffee. Mit zwanzig dann schlief ich gar nicht mehr. Aus dem offenen Haar wurde wieder ein Pferdeschwanz, der von Tag zu Tag dünner wurde. Die Haut schimmerte trotz Makeup gräulich-fahl und der Nagellack war vertrocknet, weil ich ihn nun nichtmehr brauchte. Auch den Lidschatten, die Wimperntusche und den Kajal brauchte ich nicht mehr. Die Joggingrunde ging nun den ganzen Vormittag und wurde mit Kaugummi und Kaffee belohnt.
Das war sie also – meine Kindheit, meine Jugend. Die schönste Zeit im Leben. Kommt nie mehr zurück.

Genau ein Jahr.

Ein Jahr ist es nun her. Ganz genau ein Jahr. Unfassbar wie schnell die Zeit vergeht.

Manchmal hüpft das Leben an einem vorbei und winkt.

Vor genau einem Jahr hatte ich beschlossen mein Leben endlich in die Hand zu nehmen. Neu anzufangen. Studieren, auf Parties gehen, neue Freunde finden, Spaß haben. Leben. Ja, ich war tatsächlich zuversichtlich. War voller Enthusiasmus, voller Tatendrang. Ich war bereit, sowas von bereit.

Und jetzt schreibe ich genau das, während ich mit dem Laptop auf dem Schoß und meiner gepunkteten Pyjamahose im Bett in der Klinik sitze. Links neben mir das Kalinor, weil meine Blutwerte immer noch katastrophal sind, rechts stapeln sich die Taschentücher, weil ich einfach nicht mehr aufhören kann zu weinen.

Es kommt plötzlich alles raus. Alles kommt hoch, kann gar nichts dagegen tun. Es kommt einfach und ich lasse es zu. Hab’s schon wieder viel zu lange unterdrückt.

Warum bin ich Samstagabend allein in meinem Zimmer im Krankenhaus, anstatt mit Freunden durch die Stadt zu ziehen?

Hier im 8. Stock hat man Aussicht über die ganze Stadt. Bin quasi am höchsten Punkt. Da hinten links sieht man den Bahnhof, nicht weit entfernt von der Innenstadt. Da vorn kommt dann gleich die Uni und nebenan das Clubhaus. Da sitzen sie jetzt, die Anderen und haben Spaß und machen Witze über den Typen mit dem karierten Mantel und der komischen Brille, der immer zu spät kommt. Und wahrscheinlich trinken sie auch alle warmes, billiges Dosenbier. Vielleicht ist der ein oder andere auch schon etwas angetrunken. Aber sie haben Spaß und genießen den Abend.

Und ich bin hier, im Krankenhaus.

Anstatt zur Vorlesung gehe ich Montagmorgen zum Herzecho und zum EKG. Anstatt in der Mensa esse ich zusammen mit einem Therapeuten im separaten Speisesaal. Anstatt das schöne Wetter zu genießen, sitze ich weinend hier und starre an die weiße Decke.

Ich habe Angst mein Leben zu verpassen. Habe Angst dass ich eines Tages aufwachen werde und merken werde, dass es zu spät ist. Dass ich irgendwann feststellen werde, dass ich mein halbes Leben damit verbracht habe mich tot zu hungern, obwohl doch alles was ich möchte leben ist.

Oder will ich das vielleicht gar nicht?

Beim Abendessen habe ich den Käse weggelassen. Auch den Frischkäse habe ich nur zur Hälfte aufgebraucht. Die Butter hab ich gar nicht erst aufgemacht. Mochte ich sowieso nie.

Ich habe Angst. Angst vor morgen. Angst davor, gesund zu werden und Angst davor, zu sterben.

Angst davor, mich für das Falsche zu entscheiden.

Leben oder Tod.

Gesundheit oder Krankheit.

Ich weiss nicht was ich will. Weiss auf einmal gar nichts mehr.

Ob ich überhaupt noch etwas will?

Was wenn ich einfach so liegen bleiben würde, irgendwann einschlafen würde und dann nie mehr aufwachen müsste?

Würde einfach schlafen, würde einfach liegen bleiben.

Wäre frei.

Ich bin doch so müde.

Abschiedsbrief

Es ist 3:05 Uhr morgens und ich kann nicht schlafen. Mein Herz rast wie wild und meine Gedanken kreisen. Aber es ist nicht so wie sonst. Dieses Mal liegt es nicht daran, dass ich schon wieder nicht gegessen habe und die Gedanken kreisen nicht ums Essen oder Nicht-Essen. Nein -Heute ist es anders. Alles ist anders.

Es ist Montag. Der Countdown läuft- morgen geht es los. Morgen ist Dienstag, der 20. August. Der Pink-Angestrichene Tag im sonst so blütenweißen Kalender. Der Tag an dem mein neues Leben beginnt. Der Tag an dem ich „Tschüss“ zur Krankheit sagen werde. Ihr zum Abschied ins Gesicht spucken werde. Keine Umarmungen, kein Händedruck. Keine Träne weine ich ihr nach. Zu viele habe ich schon an sie verschwendet.

Ich bin soweit. Ich bin bereit. Morgen gehe ich in die Klinik.

„Tschüss Magersucht“ werde ich ihr sagen, mich dann umdrehen und gehen. Vorwärts, nicht zurück. Denn vor mir liegt ein Leben, dass ich bis dato mit Füßen getreten habe. Immer wieder kam es angekrochen, aus dem tiefsten Loch und immer wieder stieß ich es zurück. Gewimmert und gebettelt hat es. Geweint, geschrien und gefleht. Doch ich hab es immer wieder abgelehnt. Hab es nicht gewollt. Hab mich stattdessen für die Magersucht entschieden.

Ich hab dich so satt, werde ich schreien. Ich kann dich nicht mehr sehen, werde ich ihr sagen. Deine Lügen kann ich nicht mehr hören.

Wer bist du um mir zu sagen wie ich leben soll?

Eine Krankheit. Eine fiese, bescheuerte, schwachsinnige Krankheit. Eine bitterböse, zerstörerische Krankheit und sonst nichts. Ja genau, nichts. Du bist ein Nichts ohne mich und meine bereitwilligen Gedanken. Ohne dein Plätzchen in meinem Hirn bist du rein gar nichts. Hast keine Macht, keine Überlebenschancen.

Weisst du, das Wort „Hass“ benutze ich eigentlich nicht. Ich mag es nicht. Es ist so gewaltig, so stark. Aber dich, dich hasse ich. Hasse dich mit jeder Faser meines von dir geschundenen Körpers. Hasse dich mehr als alles andere auf der Welt. Da ist sonst nichts mehr. Nur noch Hass. Purer, blanker, kalter Hass.

Du hast meine Seele betäubt, getötet, jeden Tag ein bisschen mehr – Schritt für Schritt. Und jetzt mache ich das Selbe mit dir. Nur werde ich noch grausamer sein. Werde dich leiden lassen, dich quälen und langsam verhungern lassen. Du wirst sterben, so qualvoll wie mein Lebensmut sterben musste. Noch viel qualvoller.

Aber ich werde leben. Nicht nur existieren, sondern leben.
Und du wirst mir in deinem Todeskampf dabei zusehen. Wirst mir dabei zusehen müssen wie ich wieder lachen lerne. Wie ich wieder genießen werde. Wie ich mich aus deinem Spinnennetz befreien werde. Wie ich es zerschneiden werde, mit spitzen Scheren. Alles, was du so mühevoll gesponnen hast – ich werd’s zerstören, innerhalb von Sekunden. Und ich werde dir dabei ins Gesicht lachen, genau wie du es getan hast als du mich darin eingewickelt hast. Und ich werde es zelebrieren – jeden deiner letzten Atemzüge werde ich feiern.
Du wirst um Gnade winseln. Wirst mir versprechen, dass alles anders wird –dieses Mal. Aber ich werde dir nicht glauben. Keine einzige deiner Lügen werde ich dir mehr glauben. Dieses Mal bist du machtlos. Dieses Mal werde ich keine Gnade walten lassen. Nicht noch einmal.
Du stehst am Abgrund und dieses Mal werde ich dir keine Hand reichen. Werde dich stattdessen nach unten stoßen. Werde dir zusehen wie du fällst. In ein tiefes, tiefes Loch aus dem du nicht mehr herauskommst. Nie mehr. Wirst elendig verrotten.
Aber ich werde tanzen, auf Sonnenstrahlen. Ich werde über den Wolken fliegen und glänzen. Ich werde freier sein als die Schwalben am Abendhimmel. Werde weicher sein als der Sand am Meer. Strahlender als die Sonne im Morgengrauen. Werde leben. Ich werde leben und du wirst sterben. 

Und du kannst nichts dagegen tun. Rein gar nichts. Denn jetzt bin ich an der Reihe. Ich alleine, ohne dich.
Also, liebe Magersucht, streng dich gar nicht erst an. Diesen Kampf kannst du nur verlieren.
Mach’s gut und auf Nimmerwiedersehen. Ich hoffe du wirst leiden wie nie zuvor.

Mit nicht-so-freundlichen Grüßen,
von einer ums Leben kämpfenden Seele. 

An eine Freundin/Feindin.

In der Hoffnung darauf, dass sie bald nur noch Feindin sein wird.

 

Süße Lügen
Flüstert sie mir in mein Ohr
Zuckersüß wie Apfelkuchen
Lässt sie mich leise leiden
Und lächelt mir dabei ins Gesicht
Umklammert ganz fest meinen Hals
Mit ihren Gabelhänden
Und pikst mir mit der Spitze in mein rohes Fleisch
Dreht den Spiess genau drei Mal
Bis sie mich loslässt
Und mir stumm in die leeren Augen sieht
Dann folge ich ihr wieder in den unsichtbaren Käfig
Strecke die Arme aus
Und lasse mir von ihr die Fesseln anlegen
Ohne ein Wort schließt sie die Tür
Abschliessen braucht sie nicht
Denn ausbrechen könnte ich niemals
Bin allein in meiner Zelle
Aus weißer Zuckerwatte und Schokoglasur
Ich lege mich auf den eiskalten Boden aus Stein
Und starre nach draußen
In eine Welt die mich aufzufressen droht
Hier drin bin ich sicher
Hier drin passt sie auf mich auf
Führt meine Gedanken in die richtige Richtung
Verspricht mir frei zu sein
Wie ein Vogel
Lässt mich an bessere Zeiten glauben
Als Schmetterling und nicht als Raupe
Doch bis dahin muss ich ihr gehorchen
Bin ich ein Sklave meiner Gedanken
Eine Schwalbe ohne Flügel
Eine Schnecke ohne Haus.

Sie war nie ein Teil von mir
Ist ein Fremdkörper, ein Parasit
Und doch ist sie mein halbes Leben
Der Topf am Ende des Regenbogens

Ich muss nur noch ein bisschen warten
Ein klein wenig geduldig sein
Dann wird sie mich nach draussen geleiten
In eine bessere Puppenwelt in der alles was Gold ist auch glänzt
Und ich werde schweben
Elfengleich und feenrein
Doch bis es soweit ist
Muss ich im unsichtbaren Käfig gefangen sein.

 

 

Rückfall

Sie ist wieder da. Kam ganz leise über Nacht in meine Gedanken geschlichen. Hab’s nicht bemerkt. Hat sich ganz tief reingefressen. Hat sich ihr Nest wieder aufgebaut.

Die Magersucht ist wieder da. Bekomme sie nich raus.

Alles umsonst.

Scheiss job. Weitermachen.

Alles auf Anfang.

Passive Sterbehilfe

In einer langweiligen, anstrengenden Mathestunde, in der meine Gedanken sich wieder mal nur um negative Zahlen, nämlich negative Kalorienzahlen, drehten schrieb ich einmal auf die Kartonhülle meines  Collegeblocks:

„Manchmal wünsche ich mir unsichtbar zu sein, von der Bildfläche zu verschwinden, einfach weg zu sein. Und manchmal möchte ich so gerne gesehen werden, möchte wahrgenommen werden, möchte im Mittelpunkt stehen. Vielleicht liegt die Wahrheit darin, dass ich dabei gesehen werden will wie ich verschwinde.“

Das waren meine exakten Gedanken zu dieser Zeit. Mein ganzes Leid gebündelt und verpackt in mickerige 4 Zeilen. Minimalistisch.

Ich wollte gesehen werden. Aber nicht nur einfach so. Nein. Ich wollte, dass jeder sehen kann wie sehr ich leide. Dass ich verschwinde. Dass ich jeden Tag ein bisschen weniger werde. Dass ich irgendwann einmal vielleicht komplett weg sein werde. Verschwunden. Einfach so. Und alle haben sie dabei zugesehen. Waren stumme Zeugen eines Selbstmordes auf Raten. Haben mir beim Sterben zugeschaut – manchmal sogar applaudiert oder eine Zugabe provoziert. Eine Art passive Sterbehilfe.

Das klingt jetzt ein wenig vorwurfsvoll. Ist es womöglich auch.

Aber ich frage mich manchmal wirklich wie es sein kann, dass Menschen sich so einfach blenden lassen.  Gerade bei einer Krankheit wie Magersucht ist das fatal.

Ich möchte keinesfalls leugnen, dass man der Krankheit als Außenstehender völlig hilflos gegenübersteht und ausgeliefert ist. Aber liegt denn dann die Lösung darin einfach komplett wegzuschauen?

Mag sein, dass das absurd klingt – aber wie oft habe ich mir gewünscht jemand hätte mich mal ordentlich in die Mängel genommen. Mir mal gehörig den Kopf gewaschen. Aber nicht in Form von Schuldzuweisungen und Vorwürfen, sondern sachlich und nüchtern.

Stattdessen aber ließ man mich munter weiterhungern. Machte mir sogar noch Komplimente. Bewunderte meine Disziplin. Lobte meine gesunde Lebensweise. Und klar, dass das dem Magersucht-Ich nur recht ist. Bestätigt ja wieder nur, dass man gar nicht krank ist. Alles okay.

Aber das andere Ich, das gesunde Ich, wird dadurch zutiefst verletzt. Warum schauen sie alle weg? Warum helfen sie mir dabei zu sterben? Irgendwann dann manifestiert sich ein sehr schmerzlicher Gedanke im Gehirn. Die Anderen wollen, dass ich sterbe. Sie wollen, dass ich leide. Na bitte, den Gefallen tue ich ihnen. Mich braucht offenbar keiner mehr hier.

Und so verhungert das gesunde Ich ganz langsam. Wird vom Magersucht-Ich aufgegessen. Zack. Ein Happen und weg.

Doch egal wie sehr ein essgestörter Mensch seine Krankheit leugnet. Wie sehr er beteuert es gehe ihm gut. Wie sehr er jede Form von Hilfe ablehnt. Es ist gelogen.

Ganz tief drinnen, irgendwo da zwischen Hoffnung und Vernunft, wartet er nur darauf gesehen zu werden. Wartet darauf, dass jemand sein Leiden sieht und ihm die Hand ausstreckt.  Ihn nicht verhungern lässt. Ihm nicht beim Sterben zusieht, sondern um ihn kämpft.

Guter Apfel, Schlechter Apfel

Essgestörte machen komische Dinge. Sehr, sehr komische Dinge. Meistens merken sie dabei aber gar nicht, wie komisch das Ganze eigentlich ist.

Heute im Supermarkt ertappte ich mich, wie ich einer offensichtlich essgestörten Frau beim „Lebensmittelshopping“ fasziniert für geschlagene 10 Minuten zusah.

Am Obstregal stand sie und starrte minutenlang auf die grünen Äpfel. Hob sie hoch, drehte sie, betrachtete sie von nah und fern. Legte sie wieder zurück. Machte das noch ein paar Male mit den anderen. Ging zur Lebensmittelwaage um sie abzuwiegen nur um sie dann wieder zurückzulegen. Und noch einmal. Irgendwann hatte sie dann den perfekten Apfel gefunden. Klein, aber nicht zu klein. Gerade mal groß genug um satt zu machen, aber nicht groß genug um ausreichend Nährstoffe zu enthalten. Geschätzte 120 Gramm. Wenn man ihn schält 110. Wenn man die Kerne und ein bisschen Fruchtfleisch entfernt kommt man genau auf die 100. Die magische Zahl. Der perfekte Apfel also. Zufrieden legte sie ihn in ihren großen, schwarzen Einkaufskorb und zog weiter in Richtung Gemüse.

Nur zu gut kann ich mich noch daran erinnern.

Lebensmittelshopping ist, wie es der Name schon suggeriert, eine Art Shoppingtour durch den Supermarkt. Überall lauern sie, diese hinterlistigen aber so wohlschmeckenden Leckereien und warten darauf von mir gekauft und verzehrt zu werden. Das Lebensmittelshopping kann einerseits der ultimative Kick, wenn man es mal wieder schafft all den Verlockungen zu wiederstehen, sein oder aber die Befriedigung der eigenen Sucht. Essen, Lebensmittel, Süßes, Salziges, Chips, Eis, Gemüse, Obst. Im Kopf eines jeden Essgestörten geistern diese Begriffe 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche unweigerlich herum. Der Supermarkt ist also sowas wie das Mekka der Essgestörten. Der Ort an dem sich all diese faszinierenden Nahrungsmittel aufhalten.

Nichts ist spannender als stundenlang den Kaloriengehalt diverser Packungen zu studieren, den Fettgehalt von Light-Käse zu vergleichen oder zufällig auf ein neues, noch kalorienärmeres, Produkt zu stoßen.

Nichts bereitet mehr Freude als anderen dabei zuzusehen, wie sie die Weight-Watchers Produkte mit den vermeintlichen 0,1 % Fett in den Warenkorb legen und sich nicht darüber im Klaren sind, dass dafür der Kohlenhydrat-Anteil um ein Doppeltes erhöht wurde. Alles Zucker pur. Da hilft auch das Fett nicht mehr. Und ihr fallt darauf rein. Ha, Ha!

Nichts ist beruhigender als den wunderschönen Kirschen beim Einfach-So-Daliegen zuzuschauen. Sie sehen so friedlich aus. Ach ihr süßen, kleinen Dinger.

Nichts verschafft mehr Bestätigung als die „verbotenen Gänge“ durch zu schlendern und dem Feind ins Auge zu blicken. Dir zeige ich’s, Schokolade. Ich brauche dich nicht. Das ultimative High. Man ist völlig im Rausch. Essen ist die Droge – auch wenn sie nicht konsumiert wird.

So krank das leider auch klingt, es ist die hässliche Wahrheit. Lebensmittelshopping ist nicht irgendeine Eigenart meinerseits, sondern gängiges Ritual bei Essgestörten.

Ich verbrachte halbe Tage im Supermarkt, nur um ihn dann ohne etwas gekauft zu haben wieder zu verlassen. Ich verlor mich selbst zwischen den Regalen, tigerte stundenlang hin- und her wie ein streunender Hund auf Nahrungssuche. War völlig im Wahn.

Manchmal dann, wenn ich mich dann doch für ein Produkt entscheiden konnte, fiel mir auf dem Weg zur Kasse etwas an ihm auf. Irgendein Makel, irgendwas das nicht gut an ihm war. Zu viel Fett. Nicht groß genug für eine Mahlzeit. Verpackung schaut nicht hübsch genug aus. Da gab es immer irgendetwas, das es „unkaufwürdig“ machte. Das seinen Wert ins unermessliche sinken ließ. Also brachte ich es wieder zurück, ist auch besser so. Ich brauche das nicht.

Als ich an der Kasse meine sorgfältig ausgesuchten Lebensmittel von gesund bis unsgesund auf dem Warenband sortiere und drappiere sehe ich die Frau im Augenwinkel die Kasse links neben mir anvisieren. Sie läuft zögernd auf die Schlange zu. Ein kurzer Blick in den Korb – er ist leer. Bis auf eine durchsichtige Plastiktüte. Der perfekte Apfel liegt darin. Stolz legt sie ihn auf das Band – er gehört jetzt ihr. Kein anderer kann ihn mehr haben. Was für ein Schnäppchen. Die Shoppingtour war erfolgreich.

…Und Du so?

Hat ausnahmsweise nichts mit essen zu tun 😉

Als ich heute Morgen mein Mailpostfach öffnete, hatte ich mit Allem gerechnet. Nur nicht damit. Schon der Betreff verheißt nichts Gutes. „Stufentreffen 😉 😉 😉 ;)“ heißt es da, von zwei Ausrufezeichen gefolgt– höchste Priorität! Beim Anklicken versende ich noch eben eine Lesebestätigung damit auch wirklich sicher gestellt ist, dass ich diese überaus wichtige Mail zur Kenntnis genommen habe.

„Hallo Leute 😉 😉 😉 – wir vom Abiballkomitee haben uns gedacht…“ Oh nein, bitte nicht. „..dass wir ja mal wieder so ein Stufentreffen organisieren könnten?!  😉 ;).“  War das nun eine rhetorische Frage? „Wäre doch mal wieder richtiiig cool. Also wir haben gedacht so am 5.8…“

Ohgott. Stufentreffen. Nach gerade mal einem lächerlichen Jahr?

Bei einem Stufentreffen denke ich eher an ein Zusammenkommen nach zehn Jahren, vielleicht auch zwanzig. Wir sind dann alle schon so richtig erwachsen geworden, manche von uns sind Eltern und nerven alle mit Fotos von ihrem kleinen Finn-Leon oder haben Karriere gemacht bei McKinsey. Sandra mit der Riesenbrille, die von allen nur „die Eule“ genannt wurde trägt jetzt Kontaktlinsen und modelt gelegentlich. Der Obernerd ist immer noch einer – mit dem Unterschied dass er jetzt fürs Klugscheißen bezahlt wird und zwar nicht zu knapp. So wie das in diesen amerikanischen Serien eben so läuft.

 Aber ist es wirklich schon Zeit für ein Stufentreffen? Sind wir nicht gerade erst ins Leben gestartet? Haben die Schule für lächerliche 12 Monate nicht mehr gesehen? Und abgesehen davon – bin ich wirklich schon bereit dafür?

Ich habe das Bild schon genau vor meinen Augen.

Links am Tisch mit Blick auf die Bar und den gutaussehenden Kellner sitzen die Kunst-Leistungskurs-Girlies. Die Outfits womöglich aufeinander abgestimmt. Alle in Rosa oder so. Vielleicht auch in Schwarz. Auf jeden Fall hoffnungslos overdressed und überschminkt sitzen sie alle da, in ihrem Rudel, kichernd und tuschelnd und lassen im Wechsel ihre Servietten galant vom Tisch gleiten, weil das so unglaublich süß und tollpatschig wirkt. Im späteren Verlauf des Abends wird noch mindestens Eine von ihnen in Tränen ausbrechen, weil ER schon wieder was mit dieser blöden Schlampe aus dem Fitnessstudio hatte und der Rest wird streicheln, umarmen und trösten.

Gleich nebendran sitzen die „Malle 2012 war der Hammer “ – Checker, die allesamt ihre selbstdesignten „Malle 2012 war der Hammer“ – Gruppenshirts vom Malleurlaub 2012 tragen und sich angeregt über diesen einen Abend, also damals auf Malle 2012, als Tobi so unglaublich sternhagelvoll war, unterhalten. Im weiteren Verlauf des Abends wird noch mindestens Einer von ihnen mit 2.5 Promille in die Notaufnahme eingeliefert werden und dabei grölend von der ebenso besoffenen Truppe wie ein Held gefeiert werden. Lallend wird Einer von ihnen dann feststellen: Hey Leute – das ist wie damals, ihr wisst schon, auf Malle… und der Rest wird andächtig nicken, bevor sich Tobi im Eingangsbereich des Krankenhauses seines Mittagessens noch mal eben entledigt.

Die zwei Plätze neben ihnen bleiben frei. Das sich-über-alles-liebende Stufenpärchen, das schon seit der 8. Klasse oder so in einer Art Symbiose lebt, braucht ausreichend Platz für sein Liebesspiel. Nichts wird ausgelassen. Es wird gefummelt, gebissen, ein bisschen Zunge hier ein bisschen hihihi-hör auf damit da. Das Pärchen ist den kompletten Abend mal wieder nur mit sich selbst beschäftigt. Irgendwann im Laufe des Abends wird er vor ihr auf die Knie fallen und seine umgedichtete Variante von „My Heart Will Go On“ zum Besten geben. Voller Rührung wird sie in genau diesem Moment einen Ring aus ihrem Aperol Spritz fischen und ekstatisch „Ja ich will“ kreischen, während der eine Teil des Tisches applaudiert und der andere peinlich berührt versucht so zu tun, als sei nichts gewesen. Überstürmt verlassen daraufhin beide das Lokal  und verschwinden im Auto auf dem Parkplatz.

Und man wird feststellen, dass sich absolut nichts geändert hat. War schließlich auch kaum Zeit dazwischen.

Und dann wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich auch diese lästige, eine Frage gestellt werden. Und zwar fünf, sechs, sieben Mal.

„..und Du so?“

Und dann wird man seinem Gegenüber immer und immer wieder dieselbe Geschichte erzählen müssen. Nämlich was man in diesem Jahr so getrieben, oder auch nicht getrieben hat.

Man wird versuchen das sechsmonatige Jobben bei Aldi an der Kasse als „Work ohne Travel“ schönzureden. Wird sich für seine Studienwahl „Ethnologie mit Nebenfach Assyriologie“ rechtfertigen müssen, sich den ein oder anderen Taxifahrer-Witz gefallen lassen müssen und sich hinterher nur noch schlechter fühlen. Natürlich hat der Rest des Stufe in diesem einen Jahr im Gegensatz zu einem selbst Bedeutendes geleistet. Das Praktikum bei Papa in der Kanzlei basiert ausschließlich auf der überragenden Abiturleistung von 3.5 und hat rein gar nichts mit der entfernten Verwandschaftsbeziehung zu tun. Die Exmatrikulation wegen wiederholt nicht bestandener Prüfungsleistungen ist ebenfalls alles nur ein Missverständnis gewesen. Das System war schuld. Und außerdem engt das Konzept „Studieren“ den Menschen als Freigeist sowieso nur ein.

 Und so wird das dann den restlichen Abend laufen. Jeder versucht den anderen zu übertrumpfen, versucht sich möglichst gut zu präsentieren.

Am Ende dann werden alle frustriert nach Hause gehen und sich fragen: Warum um alles in der Welt habe ich mir das angetan?

„bitte gebt doch der Anni bis nächste Woche Bescheid ob ihr kommen könnt. Wäre echt cool! 😉 😉 😉

LG Euer Abiballkomitee“

Wie von selbst klickt meine rechte Hand auf den Schnellantwort-Button.

„Bin dabei. Freue mich. Bis dann ;)“

Das war gelogen. Aber egal. Auf in den Kampf.

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser!

Heute habe ich mal wieder mein altes Esstagebuch ausgegraben. Ja, ich habe ein Esstagebuch geführt. Ein Tagebuch nur für Essen. Frühstück, Mittagessen, Abendessen – alles fein säuberlich aufgelistet. Tage im Voraus schon geplant. Keine Seite ist weiß geblieben. Das Notizbüchlein ist bis zur letzten Seite ausgefüllt. Manchmal voll, meistens aber erschreckend leer.  Rot ist es. Aber nicht so knallig. Es geht schon fast ins Lila. Ein Rote-Beete Rot. Manchmal habe ich noch ein paar hübsche Zeichnungen von Kaffee oder Tee, Brötchen oder Salzstangen hinzugefügt. Hab die „I’s“ auf dem Reis als Herzen gemalt.

Es sieht aus wie das Tagebuch einer Zwölfjährigen, die über ihre erste große Liebe schreibt. Die über ihren bescheuerten Mathelehrer wettert. Die über den Krach mit der besten Freundin klagt.

Davon steht in meinem Tagebuch jedoch nichts. In meinem Tagebuch geht es um den Fettgehalt von Magerquark. Um den Kalorienverbrauch von Seilspringen und um Gewichtsschwankungen von 500 Gramm.

Teilweise bin ich immer noch entsetzt darüber, wie sehr Mangelernährung das Denkvermögen eines Menschen beeinträchtigen kann. Besonders schockiert bin ich über einen Eintrag vom 11. Februar 2012.

Rot umrahmt und von gefühlten hundert Ausrufezeichen gefolgt springt mir sofort das Wort „Fressanfall“ ins Auge.  Darunter in zitteriger Kugelschreiberhandschrift die Kalorienzufuhr des Tages – besagter „Fressanfall“.

Zum Frühstück gab es 56 Gramm Dinkelvollkornbrot mit einer viertel Portion Magerquark und einer viertel Scheibe fettreduziertem Käse. Zwischendurch gönnte ich mir zur Feier des Tages, es war schließlich Wochenende, geschlagene 110 Gramm Grüner Apfel. Soweit so gut. Doch dann folgte besagte Orgie:  Ein Eiweiß – und zwar ein großes! Doch damit nicht genug. Nein. Zu diesem Eiweiß gab es noch ein ganzes! Roggenbrötchen (60 Gramm) UND es geht erst richtig los. 50 Gramm Hähnchenbrustfilet, sowie zwei weitere Scheiben Dinkelvollkornbrot. Nicht mal abgewogen. Verdammt. Die Krönung dieses Festgelages stellt jedoch der Gemischte Salat mit Dressing! Ja tatsächlich. Dressing. Achja – und eine Erdbeere (groß).

Vage erinnere ich mich noch an diesen sogenannten Fressanfall. Wie ich danach stundenlang nach Schlagwörtern wie „600 Kalorien, Zunahme?“ gegoogelt habe, mich sogar extra deswegen in einem Fitness-Forum angemeldet habe und nur Spott für meine ernstgemeinte Frage erntete. Wie ich die ganze Nacht wie blöd im Zimmer herumgesprungen bin, getanzt habe, Liegestütz gemacht habe und kurz vor dem Nervenzusammenbruch stand. Wie ich förmlich spüren konnte, wie das Fett sich an meinen Hüften ansetzt. Es war fürchterlich. Beim Gedanken an die Waage brach ich schlussendlich in Tränen aus. Geschlafen habe ich diese Nacht vielleicht für eine halbe Stunde.

Jetzt, gute ein Jahr und fünf Monate später, kann ich kaum glauben dass das wirklich ich geschrieben habe.

Wo war mein Verstand? Meine Gehirnzellen? Mein ganzes Wissen über Ernährung, Kalorien, Grundumsatz und sonstiger Kram? Wo um alles in der Welt war mein gesunder Menschenverstand am 11. Februar 2012?

Die Antwort lautet: Weggehungert.  Denn unter Mangelernährung leidet vor allem das Gehirn.

Umso mehr man in diesem Hungerloch steckt, desto befangener und undurchdringlicher sind die Gedanken.  Die kranken Gedanken. Die, die nichts mit gesundem Menschenverstand zu tun haben, sondern mit krankem, verstörendem, magersüchtigem Denken. Man kann auf diese Gedanken nicht vertrauen. Sie sind tückisch, trügerisch, verzerrt. Alles was einem in diesem Zustand hilft ist die Kontrolle. Die Kontrolle über die Kalorienzufuhr wiegt das Hunger-Ich in einem trügerischen Schein der Sicherheit. Fressanfälle, egal in welchem Ausmaß, stellen einen Kontrollverlust dar. Plötzlich ist das hungrige Hirn ganz ratlos, weiß nicht was ihm geschieht. Das war so nicht geplant. Die Situation ist aus dem Ruder gelaufen. Was wird nun passieren?

Es ist die Angst vor dem Ungewissen. Die Angst davor, nichtmehr kontrollieren zu können was passiert. Die Angst davor, den Dingen freien Lauf zu lassen.

Mit der unverhofften Nahrungszufuhr kommt plötzlich auch das Gehirn wieder in Schwung. Plötzlich wacht da etwas auf, das bis dato noch im Schlummermodus war.  Eine kleine fiese Stimme, eine kleine fiese Magersucht-Stimme, die aus ihrem Tiefschlaf erwacht ist. Geweckt durch die vielen, vielen Kalorien.

Die Magersucht-Stimme reckt sich und streckt sich und macht sich auf den Weg durch deine Synapsen, durchläuft dein Unterbewusstsein und hinterlässt ihre Spuren. Irgendwann ist sie in deinem Ohr angekommen und flüstert dir ihre zuckersüßen Lügen dort hinein.

„Na, mal wieder die Kontrolle verloren? Mal wieder gefressen wie ein Schwein? Nicht mal hungern kannst du. Gar nichts kannst du. Du bist eine Versagerin. Du wirst schon sehen was du davon hast. Brauchst dich gar nicht beklagen. Alles nur deine Schuld. Deine Schuld, allein.“

Ihre Worte sind stark. Stärker als dein Restverstand. Stärker als dein Restwissen. Stärker als deine über gebliebenen Resthirnzellen, die dir noch geblieben sind. Also glaubst du ihr. Du glaubst ihr jedes ihrer trügerischen Worte. Glaubst, dass 12 Gramm Fett und 600 Kalorien tatsächlich ein Walross aus dir machen werden. Dass du bereits schon Eines bist. Dass sich die fiesen, kleinen Fettzellen jetzt genau in diesem Moment ihr Plätzchen in deinen Hüften einrichten und dort sesshaft werden.

Du kannst es förmlich spüren.

Hat man einmal einen Punkt erreicht, an dem der Verstand so durcheinander ist, dass man nicht mehr auf ihn vertrauen kann, ist jede Form von Kontrollverlust unerträglich.

Was ist noch wahr und was ist krank? Man weiß es nichtmehr. Hat den Bezug zur Realität verloren. Kann nur noch auf alte Muster vertrauen.  Wem soll man denn auch glauben?

Dem Teufelchen auf der Schulter, das dir sagt „das war zu viel“ ? Oder dem Engelchen, das dir sagt „Dein Körper ist am Verhungern“ ? Man weiß es schlichtweg nicht. Weiß womöglich nicht einmal wer Engelchen und wer Teufelchen ist.

Umso schöner ist das Gefühl es heute zu wissen. Zu wissen, dass Kontrolle gut  aber Vertrauen besser ist. Es ist okay auf seinen Körper zu hören und ihm zu vertrauen. Darauf zu vertrauen, dass er sich das holt was er braucht – und zwar nur das. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das zu verstehen ist schwer. Und es ist noch schwerer es zu zulassen. Aber es ist unbeschreiblich befreiend.

Bevor ich das Tagebuch zuklappe, schlage ich noch wahllos eine andere, zufällige Seite auf. Der 10. Mai 2013. Gerade mal zwei Monate her. Oben links eine Buntstiftzeichnung von Pizza. Daneben ein Mensch ohne Gesicht und ohne Arme, gefangen in einem Käfig. Ein Pfeil nebenan besagt „Ich“.

Darunter suche ich vergeblich nach dem Protokoll des Tages. Nichts. Die Seite ist leer. Neben der Spalte Frühstück steht ein Spiegelstrich. Mittag- und Abendessen werden gar nicht erst erwähnt. Unten in der Ecke rechts ist die Seite weich und zerknittert so als sei sie nass geworden.

Ich versuche mich an den Tag zu erinnern, doch ich schaffe es nicht. Den Mai habe ich wie in Trance erlebt. Das war eine meiner schlimmsten Phasen. Ich – gefangen in einem Käfig, hungrig und herzleer. Will die Pizza greifen doch kann es nicht, da mir die Arme fehlen. Der Käfig sind meine Gedanken. Gedanken die mich gefangen halten.

Ich begreife es nun noch mehr. Kontrolle ist ein Gefängnis und Vertrauen ist Freiheit.

Eine Hungerkünstlerin – Frei nach Kafka

Eine Freundin nannte mich neulich eine Hungerkünstlerin.

Hungerkünstlerin. Hört sich schön an. Fast schon ästhetisch. Die Bezeichnung gefällt mir, schmeichelt mir. Genau wie bei Kafka ist die Hungerkünstlerin noch heute eine stumme Rebellin.

Hungern ist rein, puristisch, galant. Wer hungern kann ist erhaben, enthaltsam, diszipliniert und frei von niederen Trieben. Zumindest wird das in unserer heutigen Wohlstandsgesellschaft so gepredigt.

Das Gegenteil hingegen, die Hedonistin, ist dem Konsum und der Reizüberflutung verfallen. Kann sich nicht beherrschen. Ist haltlos, lüstern, gierig, geradezu animalisch.

In einer Gesellschaft in der es den Menschen an nichts fehlt, in der alles in dreifacher Ausführung vorhanden ist, in der Güterknappheit ein Fremdwort ist, schaut man mit Bewunderung auf eben jene, die es schaffen sich diesem Überangebot zu entziehen und ihre Enthaltsamkeit zu zelebrieren. Dabei ist doch genau diese Gesellschaft überhaupt daran „schuld“, dass ein solch krankes Ideal existiert.

Bin ich also eine Hungerkünstlerin? Ist es Kunst sich in Form von Selbstkasteiung gegen die Gesellschaft aufzulehnen? Oder ist es Protest? Was ist es, das die Konsumgesellschaft so sehr an den Asketen fasziniert und an den Hedonisten abstößt?

Grund Nummer eins liegt auf der Hand: Hungerkünstler sind anders. Sind Unnormal. Etwas Besonderes. Sie stechen aus der Masse hervor. Und wer hatte nicht schon einmal Gefühl, in dieser großen, großen, unpersönlichen Welt in den Massen unterzugehen?

Die industrialisierte Welt hat es sich zum Ziel gemacht, jegliche Form von Kreativität, Andersartigkeit, Individualität und Eigenartigkeit zu unterbinden. Individuen verschmelzen zu Gruppen, zu Massen. Da ist kein Platz für Kreativität oder Originalität.

Grund Nummer zwei baut darauf auf. In einer Gesellschaft in der es unmöglich erscheint Aufzufallen, schreit es nach drastischen Mitteln um dies zu tun. Je homogener die Masse, desto schwieriger. Etwas Krasses muss her. Etwas, das sonst keiner kann. Das Hungern.

Hunger haben wir alle. Jeder. Ob Bankkaufmann, Postbote oder Verkäufer beim Bäcker nebenan. In diesem Punkt sind wir alle gleich, daran lässt sich nichts ändern. Wir sehen vielleicht anders aus, tragen andere Klamotten, haben verschiedene Stärken und Schwächen und unterscheiden uns in diversen Wesensmerkmalen. Aber essen müssen wir alle. Außer die Hungerkünstler. Die wiederrum trotzen diesem Bedürfnis, stellen sich über den Rest der Gesellschaft und lachen von oben herab.

Grund Nummer drei : Autonomie. Ein selbstbestimmtes Leben. Das ist es doch, was jeder von klein auf anzustreben hat. Ein selbstbestimmtes Leben impliziert für die Meisten  sich frei entfalten zu können und über die benötigten Mittel dafür frei zu verfügen. Grob gesagt – Geld plus Haus plus Familie und Freunde plus  Job plus Hobbies plus Zufriedenheit mit alledem ergibt gutes, glückliches und selbstbestimmtes Leben. Auf der Metaebene jedoch, haben Geld und Status in der Autonomie keinen Platz. Selbstbestimmt ist der, der die höchste und größtmögliche Freiheit erlangt hat.

Und wenn also diese Freiheit darin besteht, genau das zu tun was man möchte, nämlich über sich und sein Leben zu entscheiden, dann hat man es geschafft. Diese Freiheit ist grenzenlos. Sie frisst sich bis in den innersten Kern des Lebens. Ja, selbst die Nahrungsaufnahme schließt sie mit ein. Warum auf die Bedürfnisse eines Körpers hören, wenn man doch den Geist und den Wille hat, frei über das Essen oder das Nicht-Essen zu entscheiden?  Ein Mensch des 21. Jahrhunderts muss keinen Trieben mehr gehorchen. Er steuert mit dem Kopf.

Schlussendlich ist das Hungern dennoch keine Kunst, kein Protest und keine Rebellion.  Es ist krank. Selbstzerstörung. Ein verzweifelter Versuch besonders zu sein, anders zu sein als der Rest. Eine Krankheit geschaffen von einer oberflächlichen Gesellschaft, die es als schick oder glamourös bezeichnet, wenn Menschen durch ihr zerstörerisches Verhalten zu etwas Besonderem auserkoren werden.

Ich würde mich niemals als Hungerkünstlerin bezeichnen. Doch so traurig das Ganze ist, ich kann nicht anders als mich geschmeichelt zu fühlen. Hungerkünstlerin. Ein schönes Wort. Wär’s nicht so krank….ich könnte mich dran gewöhnen.

Laut Gedacht

Ich mag das Wort „Essstörung“ eigentlich gar nicht. Ess-Störung. Störung. Störung des Essens. Essen ist gestört.

Bin ich denn wirklich gestört? Oder mein Essverhalten? Naja. Normal ist es nicht, das stimmt schon. Aber das ist doch nur die Oberfläche. Der Ort an dem die Störung ausgetragen wird – am Esstisch. Dabei rührt das Ganze doch von viel tiefer.

„Ein gestörtes Essverhalten“ sagen die Experten. Daran lässt sich auch nicht rütteln. Aber warum  „nur“ ein gestörtes Verhältnis zum Essen? Es ist weitaus mehr als das.

Ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper. Selbsthass. Ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Person. Eine Entfremdung von sich selbst. Eine Identitätskrise. Eine gestörte Selbstwahrnehmung. Die Überzeugung nicht der zu sein, der man eigentlich ist. Ein gestörtes Selbstwertgefühl. Die Angst, niemals genug zu sein – oder paradoxerweise niemals wenig genug zu sein.

Dennoch –

Immer noch besser als das Wort „Magersucht“.

Die Sucht danach mager zu sein. Nicht mager genug sein können. Die Magerkeit brauchen – Als Befriedigung der Sucht. Das impliziert dieses Wort für mich.

Dabei steht dieses „mager sein“ doch in fast jedem Fall für etwas ganz Anderes. Es ist nicht die Sucht danach so mager wie nur möglich zu sein. Sondern die Sucht nach der Kontrolle über das eigene Leben. Über das eigene Ich. Über den Körper. Über das Gewicht. Über das Essen. Über alles.

Es ist eine Sucht nach Autonomie, nach Selbstbestimmung. Und es ist eine Sucht nach Askese. Eine Askese, die befriedigt. Die einem das Gefühl gibt, Herr (oder Dame) der Dinge zu sein. Das ist die wahre Sucht. Die Sucht nach der Kontrolle. Mager sein ist nur die Folge.

 Die meiner Meinung nach am weitesten verfehlte Bezeichnung ist die „Ess-Brech-Sucht“.

Die Sucht nach dem Essen zu brechen. Aha. Als sei einem nur mal eben Übel gewesen. Na, dann geht man nach dem Essen eben brechen.

Bulimie oder Ess-Brech-Sucht ist die Sucht danach den Kontrollverlust zu kompensieren. Die Kontrolle zurück zu erlangen. Den Lauf der Dinge nicht zulassen zu können. Die Sucht, die Dinge so zu drehen und zu biegen wie sie sein sollten. Kontrollverluste können und dürfen nicht akzeptiert werden. Man holt sich die Kontrolle einfach wieder. Die Sucht danach, gegen Veränderungen anzukämpfen. Damit alles so bleibt wie es ist. Und wenn man das eben in Form von Erbrechen, Sport oder Medikamenten tun muss. Man kämpft. Man kämpft zwar gegen sich – aber man kämpft.

Was mich an dem Wort besonders stört ist das „Brech“. Denn nicht jede/r Bulimiker/in erbricht, um das Essen wieder loszuwerden. Viele, vielleicht zu viele, greifen zu Abführmitteln, zu Entwässerungspillen, Hungern oder Fasten tagelang oder treiben exzessiven Sport. Das alles blendet die Bezeichnung „Ess-Brech-Sucht“ aber einfach aus und beschränkt sich lediglich auf das Erbrechen.

Das vermittelt ein völlig falsches Bild von der Krankheit und von den Betroffenen. Viele wissen nichteimal selbst, dass sie Bulimiker/in sind. Sie kotzen ja nicht. Alles nicht so schlimm. Nur ein bisschen Sport, ein bisschen Hungern, ein paar Pillen. Ganz normal.

Warum ich das schreibe? Keine Ahnung. Ist schon spät – ich sollte wohl schlafen gehen.

Gedankensalat eben.

Gedankensalat

So. Nun habe ich also dieses Blog. Ein Blog über mich und meine Essstörung. Oder wohl eher über mich und meinen Weg AUS der Essstörung. Das ist nämlich der eigentliche Grund für die Existenz dieses Blogs. Sowas wie mein virtuelles Tagebuch. Für mich und für andere, die denselben Weg gehen, ihn bereits gegangen sind, oder ihn noch vor sich haben. Oder generell einfach für  jeden der sich dafür interessiert.

Damit wäre auch das geklärt.

Bleibt die Frage, wo fange ich am besten an?