Du fragst „Schlucken oder Spucken“ und kicherst. Ich sage, es kommt auf das Setting an. Wir lachen beide. Wir sitzen auf meinem Bett und trinken Tee. Draußen schneit es, hier drinnen läuft die Heizung seit Stunden auf Stufe 5. Wir tragen Wollpullis, Jogginghosen, Kuschelsocken und haben uns in Decken gewickelt. Zwei Paar Augen in einem Meer aus diversen Stofflagen, die darin fast ertrinken. „Ist das Glas halb voll oder halb leer?“ witzelst du wieder. Es kommt auf den Inhalt an, sage ich, aber wenn’s Kalorien hat trinke ich es nicht. Wir lachen beide. Dann weinst du. Salzige Tränen kullern deine Wange herunter und als würdest du dich dafür schämen scherzt du darüber, dass das jetzt wahrscheinlich deinen Elektrolythaushalt durcheinanderbringt.
Wir wirken nicht wie zwei erwachsene Frauen. Wir sind zwei verirrte Augenpaare in diversen Stofflagen, die nicht wahrhaben wollen, dass sie sich schon wieder in diese Situation gebracht haben. Die einerseits nicht wissen, wie Erwachsenwerden geht und die andererseits viel zu genau wissen, wie Erwachsenwerden geht, aber alles dafür tun würden es noch ein bisschen hinauszuzögern. Zwei Augenpaare, die lieber spucken statt schlucken – und zwar unabhängig vom Setting. Die aufgehört haben danach zu fragen, ob das Glas halb voll oder halb leer ist, weil es für sie keinen Unterschied mehr macht. Es geht nichtmehr darum auf dem Boden des Glases so etwas wie einen Sinn zu finden. Es geht darum auszuhalten, dass es scheißegal ist, weil der Inhalt so oder so nicht schmeckt.
Irgendwann wurde mir klar, dass es immer nur auf den Inhalt und nie auf die Menge ankam. Fast könnte man meinen das nimmt der Metapher jetzt wieder das Düstere. Denn ein gelebtes Leben ist immer nur so gut wie das darin enthaltene Leben…oder? Es sollte erlaubt sein das Konzept von „voll“ und „leer“ selbst zu definieren. Und es sollte erlaubt sein den Glasinhalt zu trinken und dann, anstatt zu schlucken, wieder auszuspucken. Allein schon, um zu sehen was rauskommt. Ob ich, wenn ich lang genug gurgle, vielleicht die richtigen Worte ausspucken kann? Ob ich, wenn ich lange und tief genug hinten in meinem Gaumen kratze, noch mehr finde, das ich loswerden und die Toilette herunterspülen kann? Kotzen ist eine perfide Art Katharsis. Zumindest versuchen dürfen sollte man es doch.
München. 4 Jahre später. Wir sitzen auf meinem Bett und trinken Wein. Ich sage du bist wie Benjamin Button, weil du mit jedem Jahr jünger aussiehst. Nie würde man auf die Idee kommen, dass diese weintrinkende Häufchen Nichts demnächst 30 wird. Während mein hungerndes Gesicht stets faltig, fahl, alt und ausdruckslos wirkt, siehst du aus wie eine merkwürdig erfahrene 16 Jährige Version von dir selbst. Mittlerweile denkst du nichtmehr über Glasinhalte nach. Du trinkst nur noch. Alkohol hauptsächlich. Und manchmal ziehst du eine „Line“ erzählst du – nicht wegen dem unterdrückten Hungergefühl, setzt du nach. Aber das sei dennoch ganz cool.
Es dauert nicht lange bis das Gespräch ins Alko-Philosophische abdriftet. Du fragst, warum wir überhaupt Gesetze haben? Ich fasele irgendwas von Rousseau, Hobbes, dem Gesellschaftsvertrag und der organisatorischen Ordnung. Als die Weinflasche schließlich leer ist und wir indessen auch erörtert haben, dass das Verbot der Legalisierung von Drogen anmaßend patriarchalisch ist, sagst du: Weißt du was auch anmaßend ist? Menschen davon abzuhalten ihr Leben und ihren Tod selbstbestimmt zu gestalten. Ich bin zu betrunken, um mir dabei etwas zu denken und stimme zu. Komplett anmaßend sei das, sage ich. Mein Leben und mein Tod gehören mir allein. Ich sollte darüber verfügen können, sofern dabei keiner einen Schaden nimmt. Du nickst überschwänglich. Weißte, sagst du, ich verstehe ja, dass das für Andere vielleicht schwer vorstellbar ist, weil die eben gerne leben. Die haben Spaß daran jeden Tag irgendwelche Aufgaben zu erledigen, die freuen sich auf Urlaube und Geburtstage, die kochen gerne, die sind gespannt auf die Zukunft. Das ist völlig legitim. Aber wenn man jeden Tag das Aufstehen fürchtet, wenn man am liebsten gar nichtmehr aufstehen will…dann sollte man dazu nicht gezwungen werden. Jeder der behauptet das sei alles nur Ausdruck einer Depression und dieser Zustand ließe sich ändern, der versteht einfach nicht, dass Kosten und Nutzen in manchen Fällen einfach in keinem Verhältnis stehen. Ich nicke und schlage vor an der Tankstelle noch einen Wein zu besorgen. Wir besorgen einen pisssüßen Weißwein für 2,49€ und trinken weiter. Gegen 5 Uhr nimmst du die erste U-Bahn und fährst nach Hause.
Du hattest es versucht. Oft, ziemlich oft. Hast stundenlang gekotzt und gekotzt in der Hoffnung irgendwann würdest du deine Katharsis erreichen. Irgendwann im Mai hast du dann deine Hoffnung ausgekotzt. Daraufhin hast du dir Wein gekauft – keinen billigen von der Tankstelle, sondern einen guten von Edeka. Hast dir ein Glas eingeschenkt, es angesehen, dich gefragt ob es halb voll oder halb leer ist – und dann festgestellt dass es keinen Unterschied macht. Als meine Nachricht auf WhatsApp tagelang nur einen kleinen grauen Haken anzeigte wusste ich, dass du unser Gespräch weitergedacht hast. Und dass du, nach langem Hin- und Her, endlich dein Fazit gezogen hast. Eins möchte ich der Vollständigkeit wegen noch hinzufügen: Irgendwo entsteht immer ein Schaden.