Schmetterlingssterben

In einer existenziellen Krise hatte ich einmal Google nach dem Sinn des Lebens gefragt und landete auf Wikipedia. Wenn nicht dort, wo sonst würde es eine vernünftige Antwort auf diese Frage geben, dachte ich mir.

Wikipedia legte mir die philosophischen Hintergründe der Sinnfrage selbst, die Rolle des Buddhismus, des Hinduismus, den Einfluss von Platon, Sokrates, die Evolution des Universums und des Existenzialismus und letztendlich sogar den Zusammenhang mit Gott dar. Doch auf Unmengen von rhetorischen Fragen folgten dennoch keine Antworten. Am Ende ließ mich Wikipedia mit einem Zitat der Band „Die Prinzen“ von 1995 ratlos zurück.

Unter der Rubrik „Humoristische Antworten“ folgerte Wikipedia abschließend:

Du musst ein Schwein sein in dieser Welt.“ (Im Text:…Du musst gemein sein in dieser Welt …). Hit von Die Prinzen, (1995)

Damit ist es dann wohl offiziell. Die einzige richtige Antwort auf die Frage, worin der Sinn unseres Lebens liegt, ist Zynismus.

Über Umwege und mindestens genauso existenziell bedeutende Fragestellungen, kam ich auf eine Seite, die mit einer „Anleitung zum Glücklich Sein“ teaserte. Zugegebenermaßen gewagt, aber werbetechnisch wirkungsvoll.

Im 90er Jahre Website-Stil plätscherte ein animierter Bach oben rechts beruhigend zu meditativen Klängen, die ungefragt und ohne Stopp-Funktion einfach drauflos spielten, sobald man das Fenster öffnete. Ich schaltete die Boxen aus.

Wenn man die Maus bewegte, dann folgte meinem Pfeil ein Schweif aus Rosen. Professionell und vertrauenerweckend also,  keine Frage.

Stepp 21 von 200 auf dem Weg zum Glücklich Sein, erklärte dass es hilfreich sei, ein Glückstagebuch zu führen. Ein Tagebuch also, in denen nur die glücklichen Momente des Tages gesammelt würden.

Jeden Tag sollte man sich also besinnen und versuchen, sich an eine schöne Sache, eine schöne Begegnung, einen glücklichen Moment der einem widerfahren ist zu erinnern.

Was für ein esoterisches Therapeutenzeugs habe ich mir gedacht.

„Notieren Sie die kleinen Dinge. Überlegen Sie einmal: Worüber haben Sie sich heute gefreut? Erwarten Sie keine großen Dinge. Seien Sie achtsam und versuchen Sie, mit offenen Augen durch den Tag zu gehen. Haben Sie heute vielleicht einen Schmetterling gesehen, wie er an Ihnen vorbeiflog oder sich neben Sie niederließ? Schreiben Sie es auf. Haben Sie eine schöne Blume gesehen? Richten Sie Ihr Augenmerk auf die Details.“

Ernsthaft? Ein Schmetterling? Ich war bereits dabei meinen Gästebucheintrag abzuschicken, in dem ich ausführlich darüber informierte, dass es seit einigen Jahren ein regelrechtes Schmetterlingssterben gäbe und dass einige Arten bereites so gut wie ausgerottet seien.

Dann schloss ich plötzlich die Seite, ging zum Bücherregal und kramte ein leeres, kariertes Din-A4 Heft heraus. „Gründe, sich nicht umzubringen“ schrieb ich auf das Etikett. Ich war schon immer eher Realist, als Optimist.

Wenn ich mich heute Frage, was der Sinn des Lebens ist, dann habe ich darauf immer noch keine Antwort. Auch auf Wikipedia steht dazu nichts Neues. Immerhin ist der Artikel mittlerweile in die Rubrik „lesenswert“ avanciert.

Dafür habe ich eine lange, lange Liste voller Antworten, warum es nicht wichtig ist DEN EINEN Sinn des Lebens zu ergründen. Ich habe eine Liste voller Dinge, die allein und für sich, Sinn genug sind, den Nicht-Sinn des Lebens anzuzweifeln. Was ich meine ist:

Heute habe ich auf dem Weg nach Hause eine Katze gesehen. Als ich versucht habe sie zu streicheln, ist sie nicht vor mir weggerannt. Ihr Fell war weich und getigert. Ein Tag, an dem man eine Katze streichelt, ist kein Tag an dem man sich umbringt.

Ich blättere weiter.

Heute habe ich habe heute einen erstaunlich gleichmäßigen Lidstrich gezeichnet. Der Tag, an dem man den perfekten Lidstrich zaubert, ist keiner, an dem man sich umbringt.

Heute habe ich den Bus bekommen – ohne Rennen!

Heute wurde ich an der Kasse im Supermarkt vorgelassen.

Heute habe ich geweint ohne meine Mascara zu verschmieren.

Heute habe ich zum ersten Mal die neuen Nachbarn gesehen.

Heute habe ich den Wissenstest des Tages auf ZEIT.de mit 7/8 Punkten geschafft – ohne Google!

Heute habe ich es aus dem Bett geschafft und sogar zum Briefkasten.

Heute habe ich es rechtzeitig ans Telefon geschafft.

Heute habe ich eine wirklich hübsche Paprika gekauft.

Heute habe ich endlich ein paar alte Dinge ausgemistet.

Heute habe ich an meinen Regenschirm gedacht.

Heute habe ich an meinen Regenschirm gedacht, aber es hat gar nicht geregnet.

 

 

2 Kommentare zu “Schmetterlingssterben

  1. »„Gründe, sich nicht umzubringen“ schrieb ich auf das Etikett. Ich war schon immer eher Realist, als Optimist.«

  2. Ich weiss das es so einfach daher gesagt ist, doch Gründe weiter zu leben & das Leben besser und wieder lebenswerter zu machen gibt es wirklich.

    Ich habe 3 x versucht meinem Leben ein Ende zu machen. Das 1 mal als 9 jähriges Kind. Ich bin seit 6 Jahren in der besten Beziehung meines Lebens und kann Dinge tun, die ich immer tun wollte. Hätte einer meiner Versuche geklappt, dann wäre ich um diese Erfahrungen ärmer.

    Ganz liebe Grüße aus Berlin

    Michael | Mentaltrainer & Ernährungsberater

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