Ich bin Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

I lift my arm out of the water. It’s a log. Put it back under and it blows up even bigger. People see the log and call it a twig. They yell at me because I can’t see what they see. Nobody can explain to me why my eyes work different than theirs. Nobody can make it stop. ”

aus: Wintergirls von Laurie Halse Anderson

Ich weiß nicht wie alle anderen es schaffen „normal“ zu leben, „normal“ zu sehen, „normal“ zu sein. Wie schaffen sie es jeden Morgen aufzustehen, die Bahn zur Arbeit zu nehmen, dort voll konzentriert und zu 100 % leistungsfähig zu sein, am Abend das Privat- und Sozialleben aufrecht zu erhalten und ganz nebenbei noch genug Zeit für sich selbst zu finden, sodass sie am Abend zufrieden einschlafen können, um morgen wieder genau das Selbe zu tun?

Wie kamen sie überhaupt so weit? Wie schaffen es denn all‘ die anderen auf dem Weg dorthin nicht die Richtung zu verlieren?

Ich habe manchmal den Eindruck unsere Eltern sind eifrige, ehrgeizige Forscher und experimentieren mit uns. Sie formen uns nach ihren Wünschen und Vorstellungen, so als wären wir Knetmasse oder eine chemische Flüssigkeit. Ein bisschen Sport, Tanzen ist toll, ein hübsches Hobby, zum Beispiel Klavier, etwas Soziales, Ehrgeiz und Ambitionen, keine schlechten Noten, Attraktivität, Vitalität, Lebensfreude und Höflichkeit. Ein wenig Verantwortungsbewusstsein noch dazu. Aufgießen mit einer Tasse Selbstbewusstsein. Fertig. Und natürlich gelingt das Experiment nie. Irgendwas fehlt immer. Aber dennoch sind die meisten von uns keine Abfallprodukte. Trotz ihrer Mängel schaffen sie es ihren Zweck zu erfüllen. Nur ich scheitere daran.

Meine Reaktionsgleichung bleibt unvollständig und macht mich zum gescheiterten Experiment. Anstatt alle die Fähigkeiten, die sie mir eingeimpft haben, zu nutzen, verschwende ich sie. Noch schlimmer. Ich missachte sie. Ich lasse meinen Ehrgeiz einfach so hinweg gleiten, lasse meine Ambitionen im Sand versiegen und lebe ohne Perspektiven. Ich richte all meine Höflichkeit, Aufrichtigkeit und Anpassungsfähigkeit nach außen und dafür all meinen Selbsthass, meine Zweifel und mein Rebellionspotenzial nach innen. Bei mir sind es nicht die Feinheiten und die Details an denen das Experiment scheitert. Es ist nicht nur so, dass anstatt rosa Rauchwolken die meinen rot sind, dass anstatt Funken Rauch aus meinen Ohren kommt oder dass ich leiser knalle als erwartet. Ich bin Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

Ich bin überfordert mit der Normalität. Ich schaffe es nicht das Maß zu finden und zu akzeptieren. Ich bin unentwegt auf einer Gradwanderung zwischen zwei Extremen. Ich schaffe es nicht einfach so aufzustehen, einfach so in die Arbeit zu gehen, einfach so meinen täglichen Pflichten nachzugehen und einfach so zufrieden mit mir zu sein. Es fühlt sich nie normal an, eher fremd. Wenn ich in Extremen lebe fühlt es sich hingegen anders an. Ich mag die Ekstase und das Übermaß oder aber auch das völlige Vakuum. Es ist einprägsam und spürbar. Außerdem ist es sicher. Es gibt mir die Sicherheit, dass das was ich fühle richtig ist.

Die Normalität hingegen wird zum Selbstläufer und verschluckt mich. Mich und meinen eigenen Willen. Es gibt Tage an denen will man einfach nicht zur Arbeit gehen, nicht leistungsfähig sein, nicht nett und höflich sein und auch nichts mit den Freunden unternehmen. Aber die Routine unterbindet diese Gefühle. All das ist normal. Es ist unabdingbar. Es führt kein Weg vorbei.

Außer man nimmt den falschen Weg. Das Drahtseil über dem Abgrund. Dann ist man wenigstens sicher vor der Normalität.